Annette von Droste-Hülshoff: Nach dem Angelus Silesius (1844)

1Des Menschen Seele du, vor Allem wunderbar,
2Du Alles und auch Nichts, Gott, Priester und Altar,
3Kein Pünktchen durch dich selbst, doch über alles Maaß
4Reich in geschenktem Gut, und als die Engel baß;
5Denn höher steht dein Ziel,
6So, Seele, bist du's schon; denn was zu Glück und Ruhm
7In dir verborgen liegt, es ist dein Eigenthum,
8Ob unentwickelt auch, wie's Keimlein in der Erden
9Nicht minder als der Baum, und wie als Million
10Nichts Andres ist die Eins, bist du
11So wie dem Tropfen Blut, der aus der Wunde quillt
12Ganz ähnlich ist das Roth, das noch die Adern füllt;
13Nicht Kletten trägt die Ros', der Dornstrauch keine Reben,
14Drum, Seele, stürbest du, Gott müßt den Geist aufgeben.

15Ja, Alles ist in dir was nur das Weltall beut,
16Der Himmel und die Höll', Gericht und Ewigkeit,
17Gott ist dein Richter nicht, du mußt dir selbst verzeihn,
18Sonst an des Höchsten Thron stehst du in ew'ger Pein;
19Er, der dem Suchenden noch nie verlöscht die Spur,
20Er hat selbst Satan nicht verdammt nach Zeit und Ort;
21Deß unergründlich Grab ist seine Ichheit nur:
22Wär er des Himmels Herr, er brennte ewig fort,
23Wie Gott im Höllenpfuhl wär selig für und für,
24Und, Seele, bist du treu, so steht dies auch bei dir.

25Also ist deine Macht auch heute schon dein eigen,
26Du kannst, so oft du willst, die Himmelsleiter steigen;
27Ort, Raum, sind Worte nur von Trägheit ausgedacht,
28Die nicht Bedürfniß in dein Wörterbuch gebracht.
29Dein Aug' ist Blitz und Nu, dein Flug bedarf nicht Zeit,
30Und im Moment ergreifst du Gott und Ewigkeit;
31Allein der Sinne Schrift, die mußt du dunkel nennen,
32Da dir das Werkzeug fehlt die Lettern zu erkennen;
33Nur Geist'ges faßt der Geist, ihm ist der Leib zu schwer,
34Du schmeckst, du fühlst, du riechst, und weißt um gar nichts
35mehr;
36Hat nicht vom Tröpfchen Thau die Eigenschaft zu messen
37Jahrtausende der Mensch vergebens sich vermessen?
38Drum, plagt dich Irdisches, du hast es selbst bestellt,
39Viel näher als dein Kleid ist dir die Geisterwelt!

40Faßt's nicht zuweilen dich, als müßtest in der That
41Du über dich hinaus, das Ganze zu durchdringen,
42Wie jener Philosoph um einen Punkt nur bat,
43Um dann der Erde Ball aus seiner Bahn zu schwingen?
44Fühlst du in Demuth so, in Liebesflammen rein,
45Dann ist's der Schöpfung Mark, laß dir nicht leide seyn!
46Dann fühlst du dich von Gott als Wesenheit begründet,
47Wie Quelle an dem Strand, wo Ocean sich ründet.

48So sey denn freudig, Geist, da Nichts mag größer seyn,
49So wirf dich in den Staub, da Nichts wie du so klein!
50Du Würmchen in dir selbst, doch reich durch Gottes Hort,
51So schlummre, schlummre nur, mein Seelchen, schlummre
52fort!
53Was rennst, was mühst du dich zu mehren deine That?
54Halt nur den Acker rein, dann sprießt von selbst die Saat;
55In Ruhe wohnt die Kraft, du mußt nur ruhig seyn,
56Durch offne Thür und Thor die Gnade lassen ein;
57Dann wird aus lockerm, Grund dir Myrth' und Balsam steigen,
58Er kömmt, er kömmt, dein Lieb, giebt sich der Braut zu eigen,
59Mit sich der Krone Glanz, mit sich der Schlösser Pracht,
60Um die sie nicht gefreit, an die sie nicht gedacht!

(Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

* 01/10/1797 in Burg Hülshoff, † 05/24/1848 in Burg Meersburg

weiblich, geb. von Droste-Hülshoff

natürliche Todesursache - Lungenentzündung

deutsche Schriftstellerin und Komponistin

(Aus: Wikidata.org)

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