Friedrich Hölderlin: Diotima (1796)

1Lange tot und tiefverschlossen,
2Grüßt mein Herz die schöne Welt;
3Seine Zweige blühn und sprossen,
4Neu von Lebenskraft geschwellt;
5O! ich kehre noch ins Leben,
6Wie heraus in Luft und Licht
7Meiner Blumen selig Streben
8Aus der dürren Hülse bricht.

9Wie so anders ists geworden!
10Alles, was ich haßt und mied,
11Stimmt in freundlichen Akkorden
12Nun in meines Lebens Lied,
13Und mit jedem Stundenschlage
14Werd ich wunderbar gemahnt
15An der Kindheit goldne Tage,
16Seit ich dieses Eine fand.

17Diotima! selig Wesen!
18Herrliche, durch die mein Geist,
19Von des Lebens Angst genesen,
20Götterjugend sich verheißt!
21Unser Himmel wird bestehen,
22Unergründlich sich verwandt,
23Hat sich, eh wir uns gesehen,
24Unser Innerstes gekannt.

25Da ich noch in Kinderträumen,
26Friedlich, wie der blaue Tag,
27Unter meines Gartens Bäumen
28Auf der warmen Erde lag,
29Und in leiser Lust und Schöne
30Meines Herzens Mai begann,
31Säuselte, wie Zephirstöne,
32Diotimas Geist mich an.

33Ach! und da, wie eine Sage,
34Mir des Lebens Schöne schwand,
35Da ich vor des Himmels Tage
36Darbend, wie ein Blinder, stand,
37Da die Last der Zeit mich beugte,
38Und mein Leben, kalt und bleich,
39Sehnend schon hinab sich neigte
40In der Schatten stummes Reich;

41Da, da kam vom Ideale,
42Wie vom Himmel, Mut und Macht,
43Du erscheinst mit deinem Strahle,
44Götterbild! in meiner Nacht;
45Dich zu finden, warf ich wieder,
46Warf ich den entschlafnen Kahn
47Von dem toten Porte nieder
48In den blauen Ozean. –

49Nun! ich habe dich gefunden,
50Schöner, als ich ahndend sah
51In der Liebe Feierstunden,
52Hohe! Gute! bist du da;
53O der armen Phantasien!
54Dieses Eine bildest nur
55Du, in ewgen Harmonien
56Frohvollendete Natur!

57Wie die Seligen dort oben,
58Wo hinauf die Freude flieht,
59Wo, des Daseins überhoben,
60Wandellose Schöne blüht,
61Wie melodisch bei des alten
62Chaos Zwist Urania,
63Steht sie, göttlich rein erhalten,
64Im Ruin der Zeiten da.

65Unter tausend Huldigungen
66Hat mein Geist, beschämt, besiegt,
67Sie zu fassen schon gerungen,
68Die sein Kühnstes überfliegt.
69Sonnenglut und Frühlingsmilde,
70Streit und Frieden wechselt hier
71Vor dem schönen Engelsbilde
72In des Busens Tiefe mir.

73Viel der heilgen Herzenstränen
74Hab ich schon vor ihr geweint,
75Hab in allen Lebenstönen
76Mit der Holden mich vereint,
77Hab, ins tiefste Herz getroffen,
78Oft um Schonung sie gefleht,
79Wenn so klar und heilig offen
80Mir ihr eigner Himmel steht;

81Habe, wenn in reicher Stille,
82Wenn in einem Blick und Laut
83Seine Ruhe, seine Fülle
84Mir ihr Genius vertraut,
85Wenn der Gott, der mich begeistert,
86Mir an ihrer Stirne tagt,
87Von Bewundrung übermeistert,
88Zürnend ihr mein Nichts geklagt;

89Dann umfängt ihr himmlisch Wesen
90Süß im Kinderspiele mich,
91Und in ihrem Zauber lösen
92Freudig meine Bande sich;
93Hin ist dann mein dürftig Streben,
94Hin des Kampfes letzte Spur,
95Und ins volle Götterleben
96Tritt die sterbliche Natur.

97Ha! wo keine Macht auf Erden,
98Keines Gottes Wink uns trennt,
99Wo wir Eins und Alles werden,
100Das ist nur mein Element;
101Wo wir Not und Zeit vergessen,
102Und den kärglichen Gewinn
103Nimmer mit der Spanne messen,
104Da, da sag ich, daß ich bin.

105Wie der Stern der Tyndariden,
106Der in leichter Majestät
107Seine Bahn, wie wir, zufrieden
108Dort in dunkler Höhe geht,
109Nun in heitre Meereswogen,
110Wo die schöne Ruhe winkt,
111Von des Himmels steilem Bogen
112Klar und groß hinuntersinkt:

113O Begeisterung! so finden
114Wir in dir ein selig Grab,
115Tief in deine Woge schwinden,
116Stillfrohlockend wir hinab,
117Bis der Hore Ruf wir hören,
118Und mit neuem Stolz erwacht,
119Wie die Sterne, wiederkehren
120In des Lebens kurze Nacht.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

* 03/20/1770 in Lauffen am Neckar, † 06/07/1843 in Tübingen

männlich, geb. Q114498136

deutscher Lyriker (1770-1843)

(Aus: Wikidata.org)

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