Emanuel Geibel: König Nomans Zins (1833)

1Um die Meeresbuchten zieht der Nebel,
2Zieht in Wolken um des Schlosses Türme,
3Das vom Felsen auf den Strand herabsieht;
4Horch, da klingt vom Tal herauf das Hifthorn,
5König Noman kehrt zurück vom Weidwerk,
6Mit den Jägern kehrt er, mit den Bracken.
7Jeder trägt, was er im Forst erbeutet,
8Der den Auerhahn und der den Rehbock,
9Doch der König selbst, der starke Waldherr,
10Trägt den Preis der Jagd, den mächt'gen Eber.

11Als der Zug die Brücke nun erreicht hat,
12Steht am Gattertor, des Königs harrend,
13Von Arez der achtzigjähr'ge Häuptling.
14Um ihn stehn im Halbkreis seine Söhne,
15Schwarzgewaffnet all, in schwarzen Kleidern,
16Zorn und Kummer auf der düstern Stirne.
17Freundlich zu dem Alten tritt der König:
18»sei gegrüßt an unsern Pforten, Häuptling!
19Sei gegrüßt und sprich, was dein Begehr ist,
20Und warum du kommst im Trauerkleide?«
21Ihm versetzt der Greis: »Wohl mag ich trauern;
22Große Not und Schmach ist mir geschehen,
23Mir und dir und unserm ganzen Volke.
24Denn als jüngst zur starken Burg von Rennes
25Du den Zins gesandt an Frankreichs König,
26König Karl, den sie den Kahlen heißen,
27War's mein jüngster Sohn, der blonde Kado,
28Der die Wagen führte mit den Schätzen.
29Ungepanzert zog der Ahnungslose,
30Galt es doch, ein friedlich Werk zu schlichten.
31Aber da man nun im Schlosse droben
32Wog die Säcke, war zu leicht der eine;
33Denn es fehlten sieben Pfund an tausend.
34Da ergrimmte der Wardein von Frankreich,
35Tobt' und schrie: ›So sei's denn Blut für Silber!
36Was der Fürst nicht zahlt, das zahlt der Bote!‹
37Wuterfüllt den Lanzenknechten winkt' er,
38Daß sie sich auf meinen Knaben stürzten.
39Wie ein Wildpret stachen sie ihn nieder,
40Und den Leichnam warfen sie vom Walle.« –
41Also spricht der Greis. Die tiefe Stimme
42Zittert ihm vor ungeweinten Tränen.
43Doch der König steht verstummt, es fesseln
44Schmerz und Ingrimm furchtbar ihm die Lippe;
45Mit gewalt'ger Faust das Haupt des Ebers
46Preßt er, daß das Blut in dicken Tropfen
47Niedersprüht auf sein Gewand von Linnen;
48Dann, gefaßt, ersetzt er diese Worte:
49»sei getrost, o Greis! Du sollst erfahren,
50Daß im Himmel droben noch ein Gott lebt
51Und ein König, der dich rächt, auf Erden.
52Bei dem Haupte dieses Ebers schwör' ich's:
53Nicht vom Saft der Rebe will ich trinken,
54Noch dies Blut von meinem Kleide waschen,
55Bis die Schmach, die uns geschehn, getilgt ward!«
56Spricht's und schreitet ins Gewölb des Tores;
57Schweigend folgen ihm die düstern Gäste.

58Wie verwandelt stehn des Schlosses Hallen,
59Seit der König geht im blut'gen Kleide.
60Kein Gesang mehr schallt und kein Gelächter,
61Staub bedeckt die festgewohnten Tafeln,
62Und die Spinnen weben am Kredenztisch;
63Nur der Waffenschmiede dumpfes Hämmern
64Klingt empor vom Zwinger, und die Brücke
65Dröhnt vom Hufschlag rasch entsandter Boten.

66Aber als zum andernmal im Jahre
67Nun der Tag sich naht, den Zins zu zahlen,
68An den Strand hinab mit seinen Dienern
69Zieht der Fürst, ein seltsam Werk befehlend.
70Kiesel heißt er sie am Ufer sammeln,
71Flache Kiesel, wie das Meer sie auswirft,
72Heißt sie die, als wären's Silbermünzen,
73Häufen, wägen und in Säcke schnüren
74Und die ganze Last auf Wagen schichten.
75Schwertumgürtet steigt er dann zu Rosse,
76Steigt zu Roß mit stattlichem Gefolge,
77Und die Wagen führt er selbst nach Rennes.

78Als der Zug nun anlangt vor der Feste,
79Wohl verwundert's den Wardein von Frankreich,
80Daß der König selbst den Zins geleitet;
81Doch sein Kleid von Scharlach umgeworfen,
82Eilt' er flugs hinab, das Tor zu öffnen.
83»sei willkommen«, spricht er, »König Noman!
84Steig herab vom Roß und auf die Reise
85Laß dir einen Becher Weins gefallen!
86Auch ein silbern' Waschgefäß voll Wassers
87Soll man bringen; dein Gewand ist blutig.«
88Doch der König spricht mit finstrer Stirne:
89»laß den Wein, Wardein, und laß das Wasser!
90Trinken und das Blut von meinem Kleide
91Will ich waschen, wenn der Zins bezahlt ist!« –

92Schweigend schreiten sie empor die Stufen
93Nach dem Saal der Burg, die Knechte folgen
94Keuchend unter dem Gewicht der Steine.
95Dort, wie's Brauch ist, wägen sie die Säcke,
96Wägen sie auf erzbeschlagner Wage,
97Die herabhängt vom Gewölb' der Halle.
98Richtig wird der erste Sack befunden
99Vom Wardein und richtig auch der zweite;
100Doch beim dritten Sacke ruft der Franke:
101»haltet ein! Nicht reicht, was ihr gebracht habt!
102Wieder fehlen sieben Pfund an tausend!«
103Ruft's und beugt sich grollend auf die Wage,
104Mit der Faust den Sack hinabzustoßen.
105Doch der König springt herzu, und sausend
106Fährt sein Schwert dem Frechen in den Nacken,
107Fährt durch Fleisch und Bein mit scharfem Hiebe,
108Daß das Haupt, vom blut'gen Rumpfe springend,
109In die Schale rollt mit dumpfem Klange.
110»wohl! Nun ist die Zahl der Pfunde richtig!
111Bringt sie meinem Vetter Karl und sagt ihm:
112Nur noch Kiesel zinst ihm der Bretagner!«

113Starr noch vor Entsetzen stehn die Franken,
114Als der König schon zu Rosse sitzet;
115Lachend sprengt er aus dem Tor der Feste.
116Aber draußen stößt er in sein Hifthorn,
117Sieh, da blitzen Lanzen rings und Schwerter,
118Schar an Schar mit flatternden Panieren
119Nahn die Männer jedes Gaus, es führt sie
120Von Arez der achtzigjähr'ge Häuptling.
121Bald im Sturm gewinnen sie die Feste,
122Und von Schlacht zu Schlacht, von Sieg zu Siege
123Folgen sie dem königlichen Adler.

124Also ward der letzte Zins an Frankreich
125Blutig ausgezahlt durch König Noman.

(In: Haider, Thomas. Deutsches Lyrik Korpus, 2022.)

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Author

Emanuel Geibel (1815-1884)

* 10/17/1815 in Lübeck, † 04/06/1884 in Lübeck

männlich, geb. Geibel

deutscher Lyriker

(Aus: Wikidata.org)

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