Christian Morgenstern: Am Himmel steht ein Spiegel, riesengroß Titel entspricht 1. Vers(1892)

1Am Himmel steht ein Spiegel, riesengroß.
2Ein Wunderland, im klarsten Sonnenlichte,
3entwächst berückend dem kristallnen Schoß.
4Um bunter Tempel marmorne Gedichte
5ergrünt geheimnisvoller Haine Kranz;
6der Seen Silber dunkle Kähne spalten,
7und wallender Gewänder heller Glanz
8verrät dem Auge wandelnde Gestalten.

9Wohl kenn ich dich, du seliges Gefild! ...
10Doch was in heitrer Ruh erglänzt dort oben,
11ist mehr als dein getreues Spiegelbild,
12ist Irdisches zu Göttlichem erhoben.
13Du zeigst ein friedsam wolkenloses Glück,
14um das umsonst die Staubgebornen werben ...
15Und doch! Auch du bist nur ein Schemenstück!
16Ein Hauch –: Du schläfst im Grund in tausend Scherben.

17Ein Hauch! ... Von düstren Wolken löst ein Flug
18sich von der Felskluft Schautribünenstufen.
19Um meinen Gipfel streift ihr dumpfer Zug,
20als hätte sie mein fürchtend Herz gerufen.
21Hinunter weist beschwörend meine Hand,
22indes mein Aug nach oben bittet »Bleibe!« –
23Umsonst! Ein Stoß zermalmt des Spiegels Rand,
24und donnernd bäumt sich die gewaltige Scheibe

25und stürzt, von tausend Sprüngen überzackt,
26mit fürchterlichem Tosen in die Tiefen.
27Der Abgrund schreit, von wildem Graun gepackt.
28Blutüberströmt die Wolken talwärts triefen.
29Fahlgrüner Splitterregen spritzt umher,
30den Leib der Nacht zerschneidend und zerfleischend.
31Mordbrüllend wühlt der Sturm im Nebelmeer
32und heult in jede Höhle, wollustkreischend.

33Der Berge Adern schwellen, brechen auf
34und schäumen graue Fülle ins Geklüfte.
35Ihr Flutsturz reißt verstreuter Scherben Hauf
36unhemmbar mit in finstre Waldnachtgrüfte.
37Es wog der Forsten nasses Kronenhaar,
38durchblendet von demantnem Pfeilgewimmel ...
39Doch um die Höhen wird es langsam klar,
40durch Tränen lächelt der beraubte Himmel.

41Und bald verblitzt der letzten Scherbe Schein,
42zum Grund gefegt vom Sturm- und Wellentanze.
43Nur feiner Glasstaub deckt noch Baum und Stein
44und funkelt tausendfach im Sonnenglanze ...
45Ich schau, ich sinne, hab der Zeit nicht acht –:
46Den Tag verscheuchte längst der Schattenriese.
47Und aus der Tiefe predigen durch die Nacht
48die Fälle vom versunknen Paradiese.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Christian Morgenstern (1871-1914)

* 05/06/1871 in München, † 03/31/1914 in Meran

männlich, geb. Morgenstern

natürliche Todesursache - Tuberkulose

deutscher Dichter und Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

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