1Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
2Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
3Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
4Wähnend selig nimmer hinzutraun?
5Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
6Uns einander in das Herz zu sehn,
7Um durch all die seltenen Gewühle
8Unser wahr Verhältnis auszuspähn?
9Ach, so viele tausend Menschen kennen,
10Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
11Schweben zwecklos hin und her und rennen
12Hoffungslos in unversehnem Schmerz;
13Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
14Unerwart'te Morgenröte tagt.
15Nur uns armen liebevollen beiden
16Ist das wechselseit'ge Glück versagt,
17Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
18In dem andern sehn, was er nie war,
19Immer frisch auf Traumglück auszugehen
20Und zu schwanken auch in Traumgefahr.
21Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
22Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
23Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
24Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
25Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
26Sag, wie band es uns so rein genau?
27Ach, du warst in abgelebten Zeiten
28Meine Schwester oder meine Frau.
29Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
30Spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
31Konntest mich mit
32Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt;
33Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
34Richtetest den wilden irren Lauf,
35Und in deinen Engelsarmen ruhte
36Die zerstörte Brust sich wieder auf;
37Hieltest zauberleicht ihn angebunden
38Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
39Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
40Da er dankbar dir zu Füßen lag,
41Fühlt' sein Herz an deinem Herzen schwellen,
42Fühlte sich in deinem Auge gut,
43Alle seine Sinnen sich erhellen
44Und beruhigen sein brausend Blut!
45Und von allem dem schwebt ein Erinnern
46Nur noch um das ungewisse Herz,
47Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
48Und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
49Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
50Dämmernd ist um uns der hellste Tag.
51Glücklich, daß das Schicksal, das uns quälet,
52Uns doch nicht verändern mag!