Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien (1825)

1Laßt zahme Xenien immer walten,
2Der Dichter nimmer gebückt ist.
3Ihr ließt verrückten Werther schalten,
4So lernt nun, wie das Alter verrückt ist.

5Den Vorteil hat der Dichter:
6Wie die Gemeinde prüft und probt,
7So ist sie auch sein Richter;
8Da wird er nun gescholten, gelobt,
9Und bleibt immer ein Dichter.

10Es schnurrt mein Tagebuch
11Am Bratenwender:
12Nichts schreibt sich leichter voll
13Als ein Kalender.

14»ruf ich, da will mir keiner horchen;
15Hab ich das um die Leute verdient?«
16Es möchte niemand mehr gehorchen,
17Wären aber alle gern gut bedient.

18»wann wird der Herr seine Freude sehn?«
19Wenn er befiehlt mit Sinnen Ehrlichen
20Leuten, die's recht verstehn,
21Und läßt sie was gewinnen.

22»wer ist ein unbrauchbarer Mann?«
23Der nicht befehlen und auch nicht gehorchen kann.

24»sage, warum dich die Menschen verlassen?«
25Glaubet nicht, daß sie mich deshalb hassen;
26Auch bei mir will sich die Lust verlieren,
27Mit irgend jemand zu konversieren.

28So hoch die Nase reicht, da mag's wohl gehn,
29Was aber drüber ist, können sie nicht sehn.

30Wie einer ist, so ist sein Gott,
31Darum ward Gott so oft zu Spott.

32Geh ich, so wird der Schade größer!
33Bleib ich, so wird es auch nicht besser.

34»sei einmal ehrlich nur:
35Wo findest du in deutscher Literatur
36Die größte Verfänglichkeit?«
37Wir sind von vielen Seiten groß,
38Doch hie und da gibt sich bloß
39Bedauerlichste Unzulänglichkeit.

40»verzeihe mir, du gefällst mir nicht,
41Und schiltst du nicht, so schneidst ein Gesicht,
42Wo sämtliche loben und preisen!«
43Daß, wenn man das eine von vornen bedeckt,
44Das andre bleibt hinten hinausgestreckt,
45Das soll ein Anstand heißen!

46»sage, wie es dir nur gefällt,
47Solch zerstückeltes Zeug zu treiben?«
48Seht nur hin: für gebildete Welt
49Darf man nichts anders beginnen und schreiben.

50»warum willst du das junge Blut
51So schnöde von dir entfernen?«
52Sie machen's alle hübsch und gut,
53Aber sie wollen nichts lernen.

54Die holden jungen Geister
55Sind alle von einem Schlag,
56Sie nennen mich ihren Meister
57Und gehn der Nase nach.

58Mit seltsamen Gebärden
59Gibt man sich viele Pein,
60Kein Mensch will etwas werden,
61Ein jeder will schon was sein.

62»willst dich nicht gern vom Alten entfernen?
63Hat denn das Neue so gar kein Gewicht?«
64Umlernen müßte man immer, umlernen!
65Und wenn man umlernt, da lebt man nicht.

66»sag uns Jungen doch auch was zuliebe.«
67Nun, daß ich euch Jungen gar herzlichen liebe!
68Denn als ich war als Junge gesetzt,
69Hatt ich mich auch viel lieber als jetzt.

70Ich neide nichts, ich laß es gehn
71Und kann mich immer manchem gleich erhalten;
72Zahnreihen aber, junge, neidlos anzusehn,
73Das ist die größte Prüfung mein, des Alten.

74Künstler! dich selbst zu adeln,
75Mußt du bescheiden prahlen;
76Laß dich heute loben, morgen tadeln
77Und immer bezahlen.

78Als Knabe nahm ich mir's zur Lehre,
79Welt sei ein allerliebster Spaß,
80Als wenn es Vater und Mutter wäre;
81Dann – etwas anders fand ich das.

82Die klugen Leute gefallen mir nicht
83(ich tadle mich selbst auch wohl zuweilen):
84Sie heißen das Vorsicht,
85Wenn sie sich übereilen.

86»anders lesen Knaben den Terenz,
87Anders Grotius.«
88Mich Knaben ärgerte die Sentenz,
89Die ich nun gelten lassen muß.

90»so widerstrebe! Das wird dich adeln;
91Willst vor der Feierstunde schon ruhn?«
92Ich bin zu alt, um etwas zu tadeln,
93Doch immer jung genug, etwas zu tun.

94»du bist ein wunderlicher Mann,
95Warum verstummst du vor diesem Gesicht?«
96Was ich nicht loben kann,
97Davon sprech ich nicht.

98»bei mancherlei Geschäftigkeit
99Hast dich ungeschickt benommen.«
100Ohne jene Verrücktheit
101Wär ich nicht so weit gekommen.

102»laß doch, was du halb vollbracht,
103Mich und andre kennen!«
104Weil es uns nur irremacht,
105Wollen wir's verbrennen.

106»willst du uns denn nicht auch was gönnen:
107Kannst ja, was mancher andre kann.«
108Wenn sie mich heute verbrauchen können,
109Dann bin ich ihnen ein rechter Mann.

110Das alles ist nicht mein Bereich –
111Was soll ich mir viel Sorge machen?
112Die Fische schwimmen glatt im Teich
113Und kümmern sich nicht um den Nachen.

114Mit der Welt muß niemand leben,
115Als wer sie brauchen will;
116Ist er brauchbar und still,
117Sollt er sich lieber dem Teufel ergeben
118Als zu tun, was sie will.

119»was lehr ich dich vor allen Dingen?«
120Möchte über meinen eignen Schatten springen!

121Sie möchten gerne frei sein,
122Lange kann das einerlei sein;
123Wo es aber drunter und drüber geht,
124Ein Heiliger wird angefleht,
125Und wollen die alten uns nicht befreien,
126So macht man sich behend einen neuen;
127Im Schiffbruch jammert jedermann,
128Daß keiner mehr als der andre kann.

129Grenzlose Lebenspein,
130Fast, fast erdrückt sie mich!
131Das wollen alle Herren sein,
132Und keiner ist Herr von sich.

133Und wenn man auch den Tyrannen ersticht,
134Ist immer noch viel zu verlieren.
135Sie gönnten Cäsarn das Reich nicht
136Und wußten's nicht zu regieren.

137Warum mir aber in neuster Welt
138Anarchie gar so wohl gefällt?
139Ein jeder lebt nach seinem Sinn,
140Das ist nun also auch mein Gewinn.
141Ich laß einem jeden sein Bestreben,
142Um auch nach meinem Sinne zu leben.

143Da kann man frank und fröhlich leben,
144Niemanden wird recht gegeben,
145Dafür gibt man wieder niemand recht,
146Macht's eben gut, macht's eben schlecht;
147Im ganzen aber, wie man sieht,
148Im Weltlauf immer doch etwas geschieht.
149Was Kluges, Dummes auch je geschah,
150Das nennt man Welthistoria;
151Und die Herrn Bredows künft'ger Zeiten
152Werden daraus Tabellen bereiten,
153Darin studiert die Jugend mit Fleiß,
154Was sie nie zu begreifen weiß.

155Wie es in der Welt so geht –
156Weiß man, was geschah?
157Und was auf dem Papiere steht,
158Das steht eben da.

159Das Weltregiment – über Nacht
160Seine Formen hab ich durchgedacht:
161Den hehren Despoten lieb ich im Krieg,
162Verständigen Monarchen gleich hinter dem Sieg;
163Dann wünscht ich jedoch, daß alle die Trauten
164Sich nicht gleich neben und mit ihm erbauten.
165Und wie ich das hoffe, so kommt mir die Menge,
166Nimmt hüben und drüben mich derb ins Gedränge;
167Von da verlier ich alle Spur. –
168Was will mir Gott für Lehre daraus gönnen?
169Daß wir uns eben alle nur
170Auf kurze Zeit regieren können.

171Ich tadl' euch nicht,
172Ich lob euch nicht,
173Aber ich spaße;
174Dem klugen Wicht
175Fährt's ins Gesicht
176Und in die Nase.

177Und wenn er ganz gewaltig niest,
178Wer weiß, was dann daher entsprießt
179Und was er alles mache:
180Besinnung aber hinterdrein,
181Verstand, Vernunft, wo möglich rein,
182Das ist die rechte Sache.

183Soll man euch immer und immer beplappern?
184Gewinnt ihr nie einen freien Blick?
185Sie frieren, daß ihnen die Zähne klappern,
186Das heißen sie nachher Kritik.

187»du sagst gar wunderliche Dinge!«
188Beschaut sie nur, sie sind geringe;
189Wird Vers und Reim denn angeklagt,
190Wenn Leben und Prosa das Tollste sagt?

191»du gehst so freien Angesichts,
192Mit muntern, offnen Augen!«
193Ihr tauget eben alle nichts,
194Warum sollt ich was taugen?

195»warum bist du so hochmütig?
196Hast sonst nicht so die Leute gescholten!«
197Wäre sehr gerne demütig,
198Wenn sie mich nur so lassen wollten.

199Wenn ich dumm bin, lassen sie mich gelten;
200Wenn ich recht hab, wollen sie mich schelten.

201Überzeugung soll mir niemand rauben,
202Wer's besser weiß, der mag es glauben.

203Dem ist es schlecht in seiner Haut,
204Der in seinen eignen Busen schaut.

205»wohin wir bei unsern Gebresten
206Uns im Augenblick richten sollen?«
207Denke nur immer an die Besten,
208Sie mögen stecken, wo sie wollen.

209Den Reichtum muß der Neid beteuern:
210Denn er kreucht nie in leere Scheuern.

211Soll der Neider zerplatzen,
212Begib dich deiner Fratzen.

213Soll es reichlich zu dir fließen,
214Reichlich andre laß genießen.

215»ist dein Geschenk wohl angekommen?«
216Sie haben es eben nicht übelgenommen.

217Der Teufel! sie ist nicht gering,
218Wie ich von weitem spüre;
219Nun schelten sie das arme Ding,
220Daß sie euch so verführe.
221Erinnert euch, verfluchtes Pack,
222Des paradiesischen Falles!
223Hat euch die Schöne nur im Sack,
224So gilt sie euch für alles.

225Wenn dir's bei uns nun nicht gefällt,
226So geh in deine östliche Welt.

227Ich wünsche mir eine hübsche Frau,
228Die nicht alles nähme gar zu genau,
229Doch aber zugleich am besten verstände,
230Wie ich mich selbst am besten befände.

231Wäre Gott und
232So wäre mein Lied nicht kleine.

233Gott hab ich und die Kleine
234Im Lied erhalten reine.

235So laßt mir das Gedächtnis
236Als fröhliches Vermächtnis.

237»sie betrog dich geraume Zeit,
238Nun siehst du wohl, sie war ein Schein.«
239Was weißt du denn von Wirklichkeit;
240War sie drum weniger mein?

241»betrogen bist du zum Erbarmen,
242Nun läßt sie dich allein!«
243Und war es nur ein Schein:
244Sie lag in meinen Armen,
245War sie drum weniger mein?

246Gern hören wir allerlei gute Lehr,
247Doch Schmähen und Schimpfen noch viel mehr.

248Glaube dich nicht allzu gut gebettet;
249Ein gewarnter Mann ist halb gerettet.

250Wein macht munter geistreichen Mann,
251Weihrauch ohne Feuer man nicht riechen kann.

252Willst du Weihrauchs Geruch erregen,
253Feurige Kohlen mußt unterlegen.

254Wem ich ein besser Schicksal gönnte?
255Es sind die erkünstelten Talente:
256An diesem, an jenem, am Besten gebricht's,
257Sie mühen und zwängen und kommen zu nichts.

258»sage deutlicher, wie und wenn;
259Du bist uns nicht immer klar.«
260Gute Leute, wißt ihr denn,
261Ob ich mir's selber war?

262»wir quälen uns immerfort
263In des Irrtums Banden.«
264Wie manches verständliche Wort
265Habt ihr mißverstanden.

266Einem unverständigen Wort
267Habt ihr Sinn geliehen;
268Und so geht's immer fort;
269Verzeiht, euch wird verziehen.

270Nehmt nur mein Leben hin, in Bausch
271Und Bogen, wie ich's führe;
272Andre verschlafen ihren Rausch,
273Meiner steht auf dem Papiere.

274Besser betteln als borgen!
275Warum sollen zwei denn sorgen?
276Wenn einer sorgt und redlich denkt,
277Kommt andrer wohl und heiter und schenkt.
278Das sind die besten Intressen,
279Die Schuldner und Gläubiger vergessen.

280»ich bin ein armer Mann,
281Schätze mich aber nicht gering:
282Die Armut ist ein ehrlich Ding,
283Wer mit umgehn kann.«

284Erlauchte Bettler hab ich gekannt,
285Künstler und Philosophen genannt;
286Doch wüßt ich niemand, ungeprahlt,
287Der seine Zeche besser bezahlt.

288»was hat dich nur von uns entfernt?«
289Hab immer den Plutarch gelesen.
290»was hast du denn dabei gelernt?«
291Sind eben alles Menschen gewesen.

292Cato wollte wohl andre strafen;
293Selbander mocht er gerne schlafen.

294Deshalb er sich zur Unzeit
295Mit Schwiegertochter und Sohn entzweit,
296Auch eine junge Frau genommen,
297Welches ihm gar nicht wohl bekommen;
298Wie Kaiser Friedrich der Letzte
299Väterlich auseinandersetzte.

300»was willst du, redend zur Menge,
301Dich selbst fürtrefflich preisen?«
302Cato selbst war ruhmredig, der Strenge,
303Plutarch will's ihm gar ernst verweisen.

304Man könnt erzogene Kinder gebären,
305Wenn die Eltern erzogen wären.

306Was ich in meinem Haus ertrag,
307Das sieht ein Fremder am ersten Tag;
308Doch ändert er sich's nicht zuliebe,
309Und wenn er hundert Jahre bliebe.

310Wie auch die Welt sich stellen mag,
311Der Tag immer belügt den Tag.

312Dagegen man auch nicht gerne hört,
313Wenn der Tag den Tag zerstört.

314Ich bin euch sämtlichen zur Last,
315Einigen auch sogar verhaßt;
316Das hat aber gar nichts zu sagen:
317Denn mir behagt's in alten Tagen,
318So wie es mir in jungen behagte,
319Daß ich nach alt und jung nicht fragte.

320Mit sich selbst zu Rate gehn,
321Immer wird's am besten stehn:
322Gern im Freien, gern zu Haus,
323Lausche da und dort hinaus,
324Und kontrolliere dich für und für,
325Da horchen alt und jung nach dir.

326Die Xenien, sie wandeln zahm,
327Der Dichter hält sich nicht für lahm;
328Belieben euch aber geschärftere Sachen,
329So wartet, bis die wilden erwachen.

330Sibyllinisch mit meinem Gesicht
331Soll ich im Alter prahlen!
332Je mehr es ihm an Fülle gebricht,
333Desto öfter wollen sie's malen!

334»ist's in der Näh? Kam's aus der Ferne?
335Was beugt dich Heute so schwer?«
336Ich spaßte wohl am Abend gerne,
337Wenn nur der Tag nicht so ernsthaft wär.

338Spricht man mit jedermann,
339Da hört man keinen;
340Stets wird ein andrer Mann
341Auch anders meinen;
342Was wäre Rat sodann,
343Sie zu verstehen?
344Kennst du nicht Mann für Mann,
345Es wird nicht gehen.

346Gott hat die Gradheit selbst ans Herz genommen,
347Auf gradem Weg ist niemand umgekommen.

348Wirst du die frommen Wahrheitswege gehen,
349Dich selbst und andere triegst du nie.
350Die Frömmelei läßt Falsches auch bestehen,
351Derwegen haß ich sie.

352Du sehnst dich, weit hinaus zu wandern,
353Bereitest dich zu raschem Flug;
354Dir selbst sei treu und treu den andern,
355Dann ist die Enge weit genug.

356Halte dich nur im stillen rein,
357Und laß es um dich wettern;
358Je mehr du fühlst, ein Mensch zu sein,
359Desto ähnlicher bist du den Göttern.

360Was hätte man vom Zeitungstraum,
361Der leidigen Ephemere,
362Wenn es uns nicht im stillen Raum
363Noch ganz behaglich wäre!

364Das Schlimmste, was uns widerfährt,
365Das werden wir vom Tag gelehrt.
366Wer in dem Gestern Heute sah,
367Dem geht das Heute nicht allzu nah,
368Und wer im Heute sieht das Morgen,
369Der wird sich rühren, wird nicht sorgen.

370Liegt dir Gestern klar und offen,
371Wirkst du heute kräftig frei;
372Kannst auch auf ein Morgen hoffen,
373Das nicht minder glücklich sei.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

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