Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien (1821)

1Wir sind vielleicht zu antik gewesen,
2Nun wollen wir es moderner lesen.

3»sonst warst du so weit vom Prahlen entfernt,
4Wo hast du das Prahlen so grausam gelernt?«
5Im Orient lernt ich das Prahlen.
6Doch seit ich zurück bin, im westlichen Land
7Zu meiner Beruhigung find ich und fand
8Zu Hunderten Orientalen.

9Und was die Menschen meinen,
10Das ist mir einerlei;
11Möchte mich mir selbst vereinen,
12Allein wir sind zu zwei;
13Und im lebend'gen Treiben
14Sind wir ein Hier und Dort,
15Das eine liebt zu bleiben,
16Das andere möchte fort;
17Doch zu dem Selbstverständnis
18Ist auch wohl noch ein Rat:
19Nach fröhlichem Erkenntnis
20Erfolge rasche Tat.

21Und wenn die Tat bisweilen
22Ganz etwas anders bringt,
23So laßt uns das ereilen,
24Was unverhofft gelingt.

25Wie ihr denkt oder denken sollt,
26Geht mich nichts an;
27Was ihr Guten, ihr Besten wollt,
28Hab ich zum Teil getan.
29Viel übrig bleibt zu tun,
30Möge nur keiner lässig ruhn! –
31Was ich sag, ist Bekenntnis,
32Zu meinem und eurem Verständnis.
33Die Welt wird täglich breiter und größer,
34So macht's denn auch vollkommner und besser!
35Besser sollt es heißen und vollkommner;
36So sei denn jeder ein Willkommner.

37Wie das Gestirn,
38Ohne Hast,
39Aber ohne Rast,
40Drehe sich jeder
41Um die eigne Last.

42Ich bin so guter Dinge,
43So heiter und rein,
44Und wenn ich einen Fehler beginge,
45Könnt's keiner sein.

46Ja, das ist das rechte Gleis,
47Daß man nicht weiß,
48Was man denkt,
49Wenn man denkt;
50Alles ist als wie geschenkt.

51»warum man so manches leidet,
52Und zwar ohne Sünde? –
53Niemand gibt uns Gehör.«

54Wie das Tätige scheidet,
55Alles ist Pfründe,
56Und es lebt nichts mehr.

57»manches können wir nicht verstehn.«
58Lebt nur fort, es wird schon gehn.

59»wie weißt du dich denn so zu fassen?«
60Was ich tadle, muß ich gelten lassen.

61»bakis ist wieder auferstanden!«
62Ja, wie mir scheint, in allen Landen.
63Überall hat er mehr Gewicht
64Als hier im kleinen Reimgedicht.

65Gott hat den Menschen gemacht
66Nach seinem Bilde;
67Dann kam er selbst herab,
68Mensch, lieb und milde.

69Barbaren hatten versucht,
70Sich Götter zu machen;
71Allein sie sahen verflucht,
72Garstiger als Drachen.

73Wer wollte Schand und Spott
74Nun weiter steuern?
75Verwandelte sich Gott
76Zu Ungeheuern?

77Und so will ich ein für allemal
78Keine Bestien in dem Göttersaal!
79Die leidigen Elefantenrüssel,
80Das umgeschlungene Schlangengenüssel,
81Tief Urschildkröt' im Weltensumpf,
82Viel Königsköpf auf
83Die müssen uns zur Verzweiflung bringen,
84Wird sie nicht reiner Ost verschlingen.

85Der Ost hat sie schon längst verschlungen:
86Kalidas' und andere sind durchgedrungen;
87Sie haben mit Dichterzierlichkeit
88Von Pfaffen und Fratzen uns befreit.
89In Indien möcht ich selber leben,
90Hätt es nur keine Steinhauer gegeben.
91Was will man denn vergnüglicher wissen!
92Sakontala, Nala, die muß man küssen,
93Und Megha-Duta, den Wolkengesandten,
94Wer schickt ihn nicht gerne zu Seelenverwandten!

95»willst du, was doch Genesene preisen,
96Das Eisen und handhabende Weisen
97So ganz entschieden fliehen und hassen?«
98Da Gott mir höhere Menschheit gönnte,
99Mag ich die täppischen Elemente
100Nicht verkehrt auf mich wirken lassen.

101Als hätte, da wär ich sehr erstaunt,
102Der Nabel mir was ins Ohr geraunt,
103Ein Rad zu schlagen, auf 'm Kopf zu stehn,
104Das mag für lustige Jungen gehn;
105Wir aber lassen es wohl beim alten,
106Den Kopf wo möglich oben zu halten.

107Die Deutschen sind ein gut Geschlecht,
108Ein jeder sagt: »Will nur, was recht;
109Recht aber soll vorzüglich heißen,
110Was ich und meine Gevattern preisen;
111Das übrige ist ein weitläufig Ding,
112Das schätz ich lieber gleich gering.«

113Ich habe gar nichts gegen die Menge;
114Doch kommt sie einmal ins Gedränge,
115So ruft sie, um den Teufel zu bannen,
116Gewiß die Schelme, die Tyrannen.

117Seit sechzig Jahren seh ich gröblich irren
118Und irre derb mit drein;
119Da Labyrinthe nun das Labyrinth verwirren,
120Wo soll euch Ariadne sein?

121»wie weit soll das noch gehn!
122Du fällst gar oft ins Abstruse,
123Wir können dich nicht verstehn.«
124Deshalb tu ich Buße;
125Das gehört zu den Sünden.
126Seht mich an als Propheten!
127Viel Denken, mehr Empfinden
128Und wenig Reden.

129Was ich sagen wollt,
130Verbietet mir keine Zensur!
131Sagt verständig immer nur,
132Was jedem frommt,
133Was ihr und andere sollt;
134Da kommt,
135Ich versichr' euch, so viel zur Sprache,
136Was uns beschäftigt auf lange Tage.

137O Freiheit süß der Presse!
138Nun sind wir endlich froh;
139Sie pocht von Messe zu Messe
140In dulci jubilo.
141Kommt, laßt uns alles drucken
142Und walten für und für;
143Nur sollte keiner mucken,
144Der nicht so denkt wie wir.

145Was euch die heilige Preßfreiheit
146Für Frommen, Vorteil und Früchte beut?
147Davon habt ihr gewisse Erscheinung:
148Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.

149Nicht jeder kann alles ertragen:
150Der weicht diesem, der jenem aus;
151Warum soll ich nicht sagen:
152Die indischen Götzen, die sind mir ein Graus?

153Nichts schmerzlicher kann den Menschen geschehn,
154Als das Absurde verkörpert zu sehn.

155Dummes Zeug kann man viel reden,
156Kann es auch schreiben,
157Wird weder Leib noch Seele töten,
158Es wird alles beim alten bleiben.

159Dummes aber, vors Auge gestellt,
160Hat ein magisches Recht;
161Weil es die Sinne gefesselt hält,
162Bleibt der Geist ein Knecht.

163Auch diese will ich nicht verschonen,
164Die tollen Höhl'-Exkavationen,
165Das düstre Troglodytengewühl,
166Mit Schnauz und Rüssel ein albern Spiel;
167Verrückte Zieratbrauerei,
168Es ist eine saubre Bauerei.
169Nehme sie niemand zum Exempel,
170Die Elefanten- und Fratzentempel.
171Mit heiligen Grillen treiben sie Spott,
172Man fühlt weder Natur noch Gott.

173Auf ewig hab ich sie vertrieben,
174Vielköpfige Götter trifft mein Bann,
175So Wischnu, Kama, Brahma, Schiven,
176Sogar den Affen Hannemann.
177Nun soll am Nil ich mir gefallen,
178Hundsköpfige Götter heißen groß:
179O wär ich doch aus meinen Hallen
180Auch Isis und Osiris los!

181Ihr guten Dichter ihr,
182Seid nur in Zeiten zahm!
183Sie machen Shakespeare
184Auch noch am Ende lahm.

185Im Auslegen seid frisch und munter!
186Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.

187Was dem einen widerfährt,
188Widerfährt dem andern;
189Niemand wäre so gelehrt,
190Der nicht sollte wandern,
191Und ein armer Teufel kommt
192Auch von Stell zu Stelle,
193Frauen wissen, was ihm frommt,
194Welle folgt der Welle.

195»ich zieh ins Feld!
196Wie macht's der Held?«
197Vor der Schlacht hochherzig,
198Ist sie gewannen, barmherzig,
199Mit hübschen Kindern liebherzig;
200Wär ich Soldat,
201Das wär mein Rat.

202»gib eine Norm zur Bürgerführung!«
203Hienieden,
204Im Frieden,
205Kehre jeder vor seiner Türe;
206Bekriegt,
207Besiegt,
208Vertrage man sich mit der Einquartierung.

209Wenn der Jüngling absurd ist,
210Fällt er darüber in lange Pein;
211Der Alte soll nicht absurd sein,
212Weil das Leben ihm kurz ist.

213»was hast du uns absurd genannt!
214Absurd allein ist der Pedant.«

215Will ich euch aber Pedanten benennen,
216Da muß ich mich erst besinnen können.

217Titius, Cajus, die wohl Bekannten! –
218Doch wenn ich's recht beim Licht besah,
219Einer steht dem andern so nah,
220Am Ende sind wir alle Pedanten.

221Das mach ich mir denn zum reichen Gewinn,
222Daß ich getrost ein Pedante bin.

223Tust deine Sache und tust sie recht,
224Halt fest und ehre deinen Orden;
225Hältst du aber die andern für schlecht,
226So bist du selbst ein Pedant geworden.

227Wie einer denkt, ist einerlei,
228Was einer tut, ist zweierlei;
229Macht er's gut, so ist es recht,
230Gerät es nicht, so bleibt es schlecht.

231Von Jahren zu Jahren
232Muß man viel Fremdes erfahren;
233Du trachte, wie du lebst und leibst,
234Daß du nur immer derselbe bleibst.

235Wenn ich kennte den Weg des Herrn,
236Ich ging' ihn wahrhaftig gar zu gern;
237Führte man mich in der Wahrheit Haus,
238Bei Gott! ich ging' nicht wieder heraus.

239»sei deinen Worten Lob und Ehre,
240Wir sehn, daß du ein Erfahrner bist.«
241Sieht aus, als wenn es von gestern wäre,
242Weil es von heut ist.

243Das Beste möcht ich euch vertrauen:
244Sollt erst in eignen Spiegel schauen.

245Seid ihr, wie schön geputzte Braut,
246Bei diesem Anblick froh geblieben,
247Fragt: ob ihr alles, was ihr schaut,
248Mit redlichem Gesicht mögt lieben.

249Habt ihr gelogen in Wort und Schrift,
250Andern ist es und euch ein Gift.

251X hat sich nie des Wahren beflissen,
252Im Widerspruche fand er's;
253Nun glaubt er alles besser zu wissen
254Und weiß es nur anders.

255»du hast
256Doch das zu sagen ist klein.
257Habe

258Da kommen sie von verschiedenen Seiten,
259Nord, Ost, Süd, West und anderen Weiten,
260Und klagen diesen und jenen an,
261Er habe nicht ihren Willen getan!
262Und was sie dann nicht gelten lassen,
263Das sollen die übrigen gleichfalls hassen.
264Warum ich aber mich Alter betrübe?
265Daß man nicht liebt – was ich liebe.

266Und doch bleibt was Liebes immer,
267So im Reden, so im Denken;
268Wie wir schöne Frauenzimmer
269Mehr als garstige beschenken.

270Bleibt so etwas, dem wir huld'gen,
271Wenn wir's auch nicht recht begreifen;
272Wir erkennen, wir entschuld'gen,
273Mögen nicht zur Seite weichen.

274»sagt! wie könnten wir das Wahre,
275Denn es ist uns ungelegen,
276Niederlegen auf die Bahre,
277Daß es nie sich möchte regen?«

278Diese Mühe wird nicht groß sein
279Kultivierten deutschen Orten;
280Wollt ihr es auf ewig los sein,
281So erstickt es nur mit Worten.

282Immer muß man wiederholen:
283Wenn ich diesen, jenen kränke,
284Kränk auch er mich unverhohlen.

285Störet ja – mir sagt's die Zeitung –
286Unverletzten würd'gen Ortes
287Dieser jenem, heft'gen Wortes,
288Die beliebige Bereitung.

289Was der eine will bereiten,
290Einem andern will's nicht gelten;
291Hüben, drüben muß man schelten:
292Das ist nun der Geist der Zeiten.

293Läßt mich das Alter im Stich?
294Bin ich wieder ein Kind?
295Ich weiß nicht, ob ich
296Oder die andern verrückt sind.

297»sag nur, warum du in manchem Falle
298So ganz untröstlich bist?«
299Die Menschen bemühen sich alle
300Umzutun, was getan ist.

301»und wenn was umzutun wäre,
302Das würde wohl auch getan;
303Ich frage dich bei Wort und Ehre,
304Wo fangen wir's an?«

305Umstülpen führt nicht ins Weite;
306Wir kehren frank und froh
307Den Strumpf auf die linke Seite
308Und tragen ihn so.

309Und sollen das Falsche sie umtun,
310So fangen sie wieder von vornen an;
311Sie lassen immer das Wahre ruhn
312Und meinen, mit Falschem wär's auch getan.

313Da steht man denn von neuem still,
314Warum das auch nicht gehen will.

315Niemand muß herein rennen
316Auch mit den besten Gaben;
317Sollen's die Deutschen mit Dank erkennen,
318So wollen sie Zeit haben.

319Das Tüchtige, und wenn auch falsch,
320Wirkt Tag für Tag, von Haus zu Haus;
321Das Tüchtige, wenn's wahrhaft ist,
322Wirkt über alle Zeiten hinaus.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

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