Johann Wolfgang Goethe: Ballade (1814)

1»herein, o du Guter! du Alter, herein!
2Hier unten im Saale, da sind wir allein,
3Wir wollen die Pforte verschließen.
4Die Mutter, sie betet, der Vater im Hain
5Ist gangen, die Wölfe zu schießen.
6O sing uns ein Märchen, o sing es uns oft,
7Daß ich und der Bruder es lerne,
8Wir haben schon längst einen Sänger gehofft –
9Die Kinder, sie hören es gerne.«

10»im nächtlichen Schrecken, im feindlichen Graus
11Verläßt er das hohe, das herrliche Haus,
12Die Schätze, die hat er vergraben.
13Der Graf nun so eilig zum Pförtchen hinaus,
14Was mag er im Arme denn haben?
15Was birget er unter dem Mantel geschwind?
16Was trägt er so rasch in die Ferne?
17Ein Töchterlein ist es, da schläft nun das Kind.« –
18Die Kinder, sie hören es gerne.

19»nun hellt sich der Morgen, die Welt ist so weit,
20In Tälern und Wäldern die Wohnung bereit,
21In Dörfern erquickt man den Sänger,
22So schreitet und heischt er undenkliche Zeit,
23Der Bart wächst ihm länger und länger;
24Doch wächst in dem Arme das liebliche Kind,
25Wie unter dem glücklichsten Sterne,
26Geschützt in dem Mantel vor Regen und Wind.« –
27Die Kinder, sie hören es gerne.

28»und immer sind weiter die Jahre gerückt,
29Der Mantel entfärbt sich, der Mantel zerstückt,
30Er könnte sie länger nicht fassen.
31Der Vater, er schaut sie, wie ist er beglückt!
32Er kann sich für Freude nicht lassen;
33So schön und so edel erscheint sie zugleich,
34Entsprossen aus tüchtigem Kerne,
35Wie macht sie den Vater, den teuren, so reich!« –
36Die Kinder, sie hören es gerne.

37»da reitet ein fürstlicher Ritter heran,
38Sie recket die Hand aus, der Gabe zu nahn,
39Almosen will er nicht geben.
40Er fasset das Händchen so kräftiglich an:
41›die will ich‹, so ruft er, ›aufs Leben!‹
42›erkennst du‹, erwidert der Alte, ›den Schatz,
43Erhebst du zur Fürstin sie gerne;
44Sie sei dir verlobet auf grünendem Platz.‹« –
45Die Kinder, sie hören es gerne.

46»sie segnet der Priester am heiligen Ort,
47Mit Lust und mit Unlust nun ziehet sie fort,
48Sie möchte vom Vater nicht scheiden.
49Der Alte, er wandelt nun hier und bald dort,
50Er träget in Freuden sein Leiden.
51So hab ich mir Jahre die Tochter gedacht,
52Die Enkelein wohl in der Ferne;
53Sie segn' ich bei Tage, sie segn' ich bei Nacht.« –
54Die Kinder, sie hören es gerne.

55Er segnet die Kinder; da poltert's am Tor,
56Der Vater, da ist er! Sie springen hervor,
57Sie können den Alten nicht bergen –
58»was lockst du die Kinder! du Bettler! du Tor!
59Ergreift ihn, ihr eisernen Schergen!
60Zum tiefsten Verlies den Verwegenen fort!«
61Die Mutter vernimmt's in der Ferne,
62Sie eilet, sie bittet mit schmeichelndem Wort –
63Die Kinder, sie hören es gerne.

64Die Schergen, sie lassen den Würdigen stehn,
65Und Mutter und Kinder, sie bitten so schön;
66Der fürstliche Stolze verbeißet
67Die grimmige Wut, ihn entrüstet das Flehn,
68Bis endlich sein Schweigen zerreißet:
69»du niedrige Brut! du vom Bettlergeschlecht!
70Verfinsterung fürstlicher Sterne!
71Ihr bringt mir Verderben! Geschieht mir doch recht...« –
72Die Kinder, sie hören's nicht gerne.

73Noch stehet der Alte mit herrlichem Blick,
74Die eisernen Schergen, sie treten zurück,
75Es wächst nur das Toben und Wüten.
76»schon lange verflucht ich mein ehliches Glück,
77Das sind nun die Früchte der Blüten!
78Man leugnete stets, und man leugnet mit Recht,
79Daß je sich der Adel erlerne;
80Die Bettlerin zeugte mir Bettlergeschlecht.« –
81Die Kinder, sie hören's nicht gerne.

82»und wenn euch der Gatte, der Vater verstößt,
83Die heiligsten Bande verwegentlich löst,
84So kommt zu dem Vater, dem Ahnen!
85Der Bettler vermag, so ergraut und entblößt,
86Euch herrliche Wege zu bahnen.
87Die Burg, die ist meine! Du hast sie geraubt,
88Mich trieb dein Geschlecht in die Ferne;
89Wohl bin ich mit köstlichen Siegeln beglaubt!« –
90Die Kinder, sie hören es gerne.

91»rechtmäßiger König, er kehret zurück,
92Den Treuen verleiht er entwendetes Glück,
93Ich löse die Siegel der Schätze.«
94So rufet der Alte mit freundlichem Blick:
95»euch künd ich die milden Gesetze.
96Erhole dich, Sohn! Es entwickelt sich gut,
97Heut einen sich selige Sterne,
98Die Fürstin, sie zeugte dir fürstliches Blut.« –
99Die Kinder, sie hören es gerne.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

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