Joachim Ringelnatz: Seemannstreue (1908)

1Nafikare necesse est.
2Meine längste Braut war Alwine.
3Ihrer blauen Augen Gelatine
4Ist schon längst zerlaufen und verwest. –
5Alwine sang so schön das Lied:
6»ein Jäger aus Kurpfalz«.

7Wie Passatwind stand ihr der Humor.
8– Sonntags morgens wurde sie bestattet
9In der Heide, wo kein Bäumchen schattet,
10Und auch ihre Unschuld einst verlor.

11Donnerstags grub ich sie wieder aus.
12Da kamen mir schon ihre Ohrlappen
13So sonderbar vor.

14Freitags grub ich sie dann wieder ein.
15Niemand sah das in der stillen Heide. –
16Montags wieder aus. Von ihrem Kleide,
17Das man ihr ins Grab gegeben hatte,
18Schnitt ich einer Handbreit gelber Seide,
19Und die trägt mein Bruder als Krawatte. –

20Gruslig wars: Bei dunklem oder feuchten
21Wetter fing Alwine an zu leuchten.
22Trotzdem parallel zu ihr verweilen
23Wollt ich ewiglich und immerdar.
24Bis sie schließlich an den weichen Teilen
25Schon ganz anders und ganz flüssig war.

26Aus. Ein. Aus; so grub ich viele Wochen.
27Doch es hat zuletzt zu schlecht gerochen.
28Und die Nase wurde blauer Saft,
29Wodrin lange Fadenwürmer krochen. –
30Nichts für ungut: Das war ekelhaft. –
31Und zuletzt sind mir die schlüpfrigen Knochen
32Ausgeglitten und in lauter Stücke zerbrochen.

33Und so nahm ich Abschied von die Stücke.
34Ging mit einem Schoner nach Iquique,
35Ohne jemals wieder ihr Gebein
36Auszugraben. Oder anzufassen.

37Denn man soll die Toten schlafen lassen.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Joachim Ringelnatz (1883-1934)

* 08/07/1883 in Wurzen, † 11/17/1934 in Berlin

männlich, geb. Bötticher

natürliche Todesursache - Tuberkulose

deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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