Gottfried August Bürger: Die Kuh (1784)

1Frau Magdalis weint' auf ihr letztes Stück Brot.
2Sie konnt' es vor Kummer nicht essen.
3Ach, Witwen bekümmert oft größere Not,
4Als glückliche Menschen ermessen.

5»wie tief ich auf immer geschlagen nun bin!
6Was hab' ich, bist du erst verzehret?« –
7Denn, Jammer! ihr Eins und ihr Alles war hin,
8Die Kuh, die bisher sie ernähret. –

9Heim kamen mit lieblichem Schellengetön
10Die Andern, gesättigt in Fülle.
11Vor Magdalis Pforte blieb keine mehr stehn
12Und rief ihr, mit sanftem Gebrülle.

13Wie Kindlein, welche der nährenden Brust
14Der Mutter sich sollen entwöhnen,
15So klagte sie Abend und Nacht den Verlust
16Und löschte ihr Lämpchen mit Thränen.

17Sie sank auf ihr ärmliches Lager dahin,
18In hoffnungslosem Verzagen,
19Verwirrt und zerrüttet an jeglichem Sinn,
20An jeglichem Gliede zerschlagen.

21Doch stärkte kein Schlaf sie von Abend bis früh.
22Schwer abgemüdet, im Schwalle
23Von ängstlichen Träumen, erschütterten sie
24Die Schläge der Glockenuhr alle.

25Früh that ihr des Hirtenhornes Getön
26Ihr Elend von neuem zu wissen.
27»o wehe! Nun hab' ich nichts aufzustehn!« –
28So schluchzte sie nieder ins Kissen.

29Sonst weckte des Hornes Geschmetter ihr Herz,
30Den Vater der Güte zu preisen.
31Jetzt zürnet' und hadert' entgegen ihr Schmerz
32Dem Pfleger der Witwen und Waisen.

33Und horch! Auf Ohr und auf Herz, wie ein Stein
34Fiel's ihr, mit dröhnendem Schalle.
35Ihr rieselt' ein Schauer durch Mark und Gebein:
36Es dünkt' ihr, wie Brüllen im Stalle.

37»o Himmel! Verzeihe mir jegliche Schuld,
38Und ahnde nicht meine Verbrechen!«
39Sie wähnt', es erhübe sich Geistertumult,
40Ihr sträfliches Zagen zu rächen.

41Kaum aber hatte vom schrecklichen Ton
42Sich mählich der Nachhall verloren,
43So drang ihr noch lauter und deutlicher schon
44Daß Brüllen vom Stalle zu Ohren.

45»barmherziger Himmel, erbarme dich mein,
46Und halte den Bösen in Banden!«
47Tief barg sie daß Haupt in die Kissen hinein,
48Daß Hören und Sehen ihr schwanden.

49Hier schlug ihr, indem sie im Schweiße zerquoll,
50Daß bebende Herz, wie ein Hammer;
51Und drittes noch lauteres Brüllen erscholl,
52Als wär's vor dem Bett' in der Kammer.

53Nun sprang sie mit wildem Entsetzen heraus;
54Stieß auf die Laden der Zelle;
55Schon strahlte der Morgen; der Dämmerung Graus
56Mich seiner erfreulichen Helle.

57Und als sie mit heiligem Kreuz sich versehn:
58»gott helfe mir gnädiglich, Amen!« –
59Da wagte sie's zitternd zum Stalle zu gehn,
60In Gottes allmächtigem Namen.

61O Wunder! Hier kehrte die herrlichste Kuh,
62So glatt und so blank, wie ein Spiegel,
63Die Stirne mit silbernem Sternchen ihr zu.
64Vor Staunen entsank ihr der Riegel.

65Dort füllte die Krippe frisch duftender Klee
66Und Heu den Stall, sie zu nähren;
67Hier leuchtet' ein Eimerchen, weiß wie der Schnee,
68Die strotzenden Euter zu leeren.

69Sie trug ein zierlich beschriebenes Blatt,
70Um Stirn und Hörner gewunden:
71»zum Troste der guten Frau Magdalis hat
72N.N. hieher mich gebunden.« –

73Gott hatt' es ihm gnädig verliehen, die Not
74Des Armen so wohl zu ermessen.
75Gott hatt' ihm verliehen ein Stücklein Brot,
76Das konnt' er allein nicht essen. –

77Mir däucht, ich wäre von Gott ersehn,
78Was gut und was schön ist, zu preisen:
79Dabei besing' ich, was gut ist und schön,
80In schlicht einfältigen Weisen.

81»so, schwur mir ein Maurer, so ist es geschehn!«
82Allein er verbot mir den Namen.
83Gott lass' es dem Edlen doch wohl ergehn!
84Das bet' ich herzinniglich, Amen!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Gottfried August Bürger (1747-1794)

* 12/31/1747 in Molmerswende, † 06/08/1794 in Göttingen

männlich, geb. Bürger

natürliche Todesursache - Tuberkulose

deutscher Dichter

(Aus: Wikidata.org)

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