N. N.: Das Forsthaus in den Vogesen (1885)

1Ich sang und wanderte im Wasgauwalde,
2Bis ich im Wurzelwerk den Pfad verlor,
3Da trat mir just auf einer Lichtung Halde
4Ein grünumranktes, freundlich Haus hervor.
5Gar lockend winkte aus dem Laubgewinde
6Die weiße Wand, der hellen Fenster Fach,
7Und über allem baute Eich’ und Linde
8Ein duftig schattenreiches Blätterdach.
9Hoch durch das Laub sah ich den Giebel ragen,
10Gekrönt von einem stattlichen Geweih,
11Das schien dem Wandrer schon von fern zu sagen,
12Daß dies des Waidmanns lustig Schlößchen sei.
13Hier stieg ich keck die moosumkränzten Stufen
14Zur braunen Thür und pochte wacker an. —
15Der liebe Gott hat’s ja schon längst gerufen:
16„wer anklopft, dem wird sicher aufgethan.“ —
17Ich that’s zwei-, dreimal, doch es blieb geschlossen.
18Ein Zeisig nur sang drin sein Schelmenlied;
19Es war das erste, das mich schier verdrossen,
20Denn neckisch klang es mir wie: „Flieht nur, flieht!“
21Da hört ich plötzlich durch’s Gezweig erklingen
22Gar heller Stimme fröhlichen Gesang,
23Und gleich darauf sah ich durch’s Buschwerk springen
24Ein blühend Mädchen, schlehenäugig, schlank.
25Als sie den Fremden sah am Haus sich regen,
26Entfuhr ihr wie im Schreck ein leiser Schrei;
27Ich grüßte reuig, schalt mich keck, verwegen
28Und bald war ihre Mädchenangst vorbei.
29Erst schmählte sie mit hellem Silberlachen
30Sich selber aus und zürnte schelmisch dann;
31„wie konntet ihr mich auch nur schrecken machen,
32Am offnen Tag, ihr böser, junger Mann!
33Ich war das Thal hinab in’s Dorf gegangen
34Um Salz und Brot für unser kleines Haus,
35Der Vater zog schon bei dem ersten Prangen
36Des Frühroths auf sein Tagewerk hinaus.
37Doch tretet ein, gönnt euch ein Ruhestündchen,
38Ihr seid gewiß recht müd’ und wandermatt!
39Kommt, nehmt vorlieb mit dem, was unser Spindchen
40An Speis’ und Trank für euren Gaumen hat!“ —
41In ihren Wangen lachten kleine Grübchen,
42Als sie mich herzlich in den Hausflur lud;
43Drauf öffnete sie mir das Försterstübchen,
44Daß mir ganz still und sonderbar zu Muth.
45Gebohnt war dort die glatte Diele drinnen
46Und holzgetäfelt rings die braune Wand,
47Die Fenster zierten schmuck schneeweiße Linnen
48Aus ihrer eig’nen, fleiß’gen Mädchenhand.
49Ein Eichentisch stand gastlich in der Mitte,
50Zu dem des Vaters Art den Stamm gefällt,
51Und Flechtwerkstühle nach des Waidmanns Sitte
52Aus Birkenästen kunstvoll hergestellt.
53Behaglich bis zu künft’gen Wintertagen
54Der Kachelofen in der Ecke stand
55Und auf gescheuerten Gesimsen lagen
56Viel blanke Teller mit gemaltem Rand.
57Am Wandgetäfel sah ich aufgehangen
58Ein schlichtes Kreuz und unsres Kaisers Bild.
59Und rings im Kreise vielgestaltig prangen
60Manch stolz Geweih von dem erlegten Wild.
61Doch immer warf ich heimlich beim Beschauen
62Mein Auge auf das Försterkind zurück
63Und haschte diebisch aus den dunkelblauen
64Und sanften Augen manchen raschen Blick.
65Sie hatte bald mit flink gewandten Griffen
66Den Eichentisch für unser zwei bestellt
67Und grüne Gläser bilderreich geschliffen
68Und schwarzes Brot und Wildpret drauf gestellt.
69Doch auf der gastfreundlichen Tafel Mitte
70Trug sie im irdnen Kruge goldnen Wein,
71Und lud mich dann mit liebevoller Bitte
72Zum frohen Vespermahle freundlich ein.
73Sie bat so herzlich mich, so unbefangen,
74Bediente mich, kredenzte den Pokal,
75Daß unbewußt in meine jungen Wangen
76Ein seltsam Glühen sich verrathend stahl.
77Durch’s Fenster lugten von dem Buchenaste
78Zwei weiße Täubchen auf den stillen Schmaus,
79Verwundert girrend ob dem seltnen Gaste
80In ihrer Herrin trautem Försterhaus. — —
81Schon sah ich Alpenglühn auf Gletscherriffen,
82Und schaute auch des Meers Unendlichkeit,
83Doch hat mich nichts so innerlich ergriffen
84Als dieses Mädchens sanfte Kindlichkeit.
85Ihr frisches Plaudern klang wie einer Quelle
86Melodischer und weicher Waldgesang;
87Von Wiese, Waidwerk und des Wildes Schnelle
88Erzählte sie und von dem Drosselfang.
89Dann mußt ich ihr auf tausend liebe Fragen
90Berichten von den fernen Schweizerhöhn,
91Wie silberkuppig dort die Gletscher ragen
92Und die Lawine löst der grause Föhn;
93Und wie ich südwärts dann hinabgezogen
94In’s schöne Land, wo die Orange glänzt,
95Und wo die Adria mit ihren Wogen
96Venedigs schimmernde Paläste kränzt.
97Der deutsche Wein lieh meinen Worten Flügel,
98Mein Auge glühte, meine Rede floß
99Und leicht getragen ohne Zaum und Zügel
100Sprang sie dahin wie ein beschwingtes Roß.
101„und doch,“ so rief ich, und die Gläser klangen,
102„wie reich die Welt da draußen auch, wie schön
103Neapels Golf, der ewgen Roma Prangen,
104Das blaue Meer und Tiburs Myrthenhöhn,
105Ich sehnte mich aus all des Südens Düften
106Nach meines deutschen Eichwalds grünem Dom,
107Und von Siciliens wunderbaren Triften
108An meinen Rhein, an meinen deutschen Strom.
109Und eines Tags — der Lenz ging schon zur Rüste
110Mit Stab und Ränzel mich Palermo sah,
111Dort nahm ich Abschied von Messinas Küste
112Und fuhr zu Schiffe hin nach Genua.
113Hier zog ich nordwärts, jauchzte meine Lieder
114Zum zweiten Mal im Berner Oberland,
115Bis heut ich meine deutschen Wälder wieder
116Und — dich, du liebe, junge Wirthin, fand!“ —
117Ich war zu Ende und die Zeit verflogen,
118Schon dunkelte das trauliche Gemach
119Und schimmernd flutheten die goldenen Wogen
120Der Dämmerstunde durch das Blätterdach;
121Und glühend küßte meiner Wirthin Wangen
122Des Abends rosiger Madonnenschein
123Und hüllte wunderbar in goldnes Prangen
124Ihr wallend Haar, ihr blühend Antlitz ein.
125Doch wie die Strahlen mählig weiter wichen,
126Rief mich die Wanderpflicht gebietend fort,
127Ich wollte noch, eh mich die Nacht beschlichen,
128Zu Thale pilgern in den nächsten Ort.
129Mich rief mein Ziel von dieser trauten Stätte,
130Die Liebe mir geboten, Trank und Schmaus,
131Und dennoch war’s, als schlöss’ mich eine Kette
132An dieses waldesstille Försterhaus.
133Stumm sann ich nach. — Ich wußte nichts zu sagen,
134Stand auf vom Tisch und von dem lieben Mahl,
135Als mich, wie mit geheimnißvollem Fragen,
136Aus ihren Augen traf ein lichter Strahl.
137Und zögernd frug sie: „Wollt Ihr wirklich gehen?
138Im Haus ist Platz genug, ich bitt’ Euch, weilt,
139Und wandert morgen erst von unsern Höhen
140Mit meinem Vater, wenn die Zeit Euch eilt!“
141Nun rang ich mit mir selbst und wurde irre,
142Ob’s recht, daß man die Liebe so vergilt,
143Und immer trat aus meiner Pläne Wirre
144Des Försterkindes maienlichtes Bild.
145Doch eine Stimme, die mich sonst gemieden,
146Rief warnend mir: „Flieh, fliehe nur geschwind!
147Vergifte nicht des Waldes heilgen Frieden,
148Vergifte nicht dies schöne junge Kind!
149Fremd wie du kamst, zieh fremd auch rasch von hinnen
150Und kette hier nicht jählings dein Geschick;
151Was willst, was willst du hier? Bist du von Sinnen?
152Zieh fort und schaue wandernd nie zurück!“
153Und plötzlich war’s, als zög’ es mich von dannen,
154Rasch griff ich Wanderränzchen, Hut und Stab
155Und wandte mich — denn ein Paar Thränen rannen
156Ganz heimlich aus den Augen mir herab:
157„ich kann ja nicht und darf nicht länger bleiben,
158Muß morgen noch an meinen Heimathrhein,
159Vielleicht, wenn wieder Buch’ und Birke treiben,
160Kehr’ ich noch einmal hier im Forsthaus ein.
161Heut hast Du mich so liebreich aufgenommen,
162Als wär ich dir ein Bruder oder mehr,
163Drum wird, ich weiß wohl selbst nicht wie’s mag kommen,
164Von dir das Weiterwandern mir so schwer.
165Mach mirs nicht schwerer, Mädchen, laß mich ziehen,
166Nimm mir nicht ganz den jugendfrohen Sinn
167Und laß mich fremd aus deinem Walde fliehen,
168Fremd wie ichs war und wie ich jetzt noch bin!
169Dein Bild nur laß mich tief im Herzen tragen
170Als Kleinod, das die Wanderlust mir lieh,
171Mein Lied nur soll von deiner Liebe sagen,
172Verklären soll dich einst die Poesie.
173Hab Dank! — Was soll ich dir du Waldkind, schenken
174Als deiner Herzensgüte edlen Preis?
175Ich wüßte nichts, doch — willst du mein gedenken —
176So nimm dies kleine Sträußchen Edelweiß.
177Es welkt nicht hin wie eine Rosenblüthe,
178Frisch bleibt sein Schmelz und seine Lieblichkeit;
179Nimm es für deine Liebe, deine Güte
180Und nun leb wohl — du junge, deutsche Maid.“ —
181„so zieht mit Gott“ — rief sie mit Flammenwangen,
182„doch trinkt noch diesen letzten Becher Wein:
183‚auf Wiedersehn‘ —“ die hellen Gläser klangen —
184„so zieht mit Gott und denkt auch fürder mein!
185Seht ihr den Pfad, der durch den Wald sich windet,
186Den wandert fort, bis ihr vom Zaun umhegt
187Ein Christusbild an einem Hochweg findet,
188Der euch vor Nacht noch in den Thalgrund trägt!“
189So schied ich denn, ein Druck der lieben Hände,
190Ein heller Blick, ein Gruß, ein letztes Wort. — — —
191Dann stürmte ich mit Hast das Waldgelände
192Den Pfad entlang nach meinem Ziele fort. — —
193So schwer war ich noch nirgends fortgegangen
194Als von dem gastlich trauten Försterhaus,
195Da draußen trieb mich stets ein wild Verlangen
196Nach neuer Länder neue Pracht hinaus.
197Die Welt war fremd mir, ich an nichts gekettet,
198Und frei noch trieb ich meiner Pläne Spiel,
199Heut hatt’ ich hier mich, morgen dort gebettet,
200Wie’s grade meiner Wanderlust gefiel.
201Und nun schien mir des Wanderns schönes Leben
202Ein Gang vom Paradies ins Ungefähr,
203Ein planlos Irren und ein blindes Streben
204Und eine Fahrt auf ödem weitem Meer.
205Und wie ich schritt und wie des Waldes Bäume
206Aufrauschten in des Abends duftgem Wehn,
207Versank ich stumm in wunderbare Träume,
208Sah Bilder wie ich sie noch nie gesehn. —

(Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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