N. N.: Auf der Fahrt nach Berlin. 1882. (1885)

1Von Westen kam ich, — schwerer Haideduft
2Umfloß mich noch, vor meinen Augen hoben
3Sich weiße Birken in die klare Luft,
4Von lauten Schwärmen Krähenvolks umstoben,
5Weit, weit die Haide, Hügel gelben Sand’s,
6Und binsenüberwachs’ne Wasserkolke,
7Fern zieht ein Schäfer in des Sonnenbrand’s
8Braunglühendem Reich verträumt mit seinem Volke.

9Von Westen kam ich und mein Geist umspann
10Weichmüthig rasch entschwund’ne Jugendtage,
11War’s eine Thräne, die vom Aug’ mir rann,
12Klang’s von dem Mund wie sehnsuchtsbange Klage? …
13Von Westen kam ich und mein Geist entflog
14Voran und weit in dunkle Zukunftstunden …
15Wohl hob er mächtig sich, sein Flug war hoch,
16Und Schlachten sah er, Drang und blut’ge Wunden.

17Vorbei die Spiele, durch den Nebelschwall
18Des grauenden Septembermorgens jagen
19Des Zuges Räder, und vom dumpfen Schall
20Stöhnt, dröhnt und saust’s im engen Eisenwagen …
21Zerzauste Wolken, winddurchwühlter Wald
22Und braune Felsen schießen wirr vorüber,
23Dort graut die Havel, und das Wasser schwallt,
24Die Brücke, hei! dumpf braust der Zug hinüber.

25Die Fenster auf! Dort drüben liegt Berlin!
26Dampf wallt empor und Qualm, in schwarzen Schleiern
27Hängt tief und steif die Wolke drüber hin,
28Die bleiche Luft drückt schwer und liegt wie bleiern …
29Ein Flammenheerd darunter — ein Vulkan,
30Von Millionen Feuerbränden lodernd, …
31Ein Paradies, ein süßes Kanaan, —
32Ein Höllenreich und Schatten bleich vermodernd.

33Hindonnernd rollt der Zug! Es saust die Luft,
34Ein anderer rast dumpfrasselnd risch vorüber,
35Fabriken rauchgeschwärzt, im Wasserduft
36Glänzt Flamm’ um Flamme, düster, trüb’ und trüber,
37Engbrüst’ge Häuser, Fenster schmal und klein,
38Bald braust es dumpf durch dunkle Brückenbogen,
39Bald blitzt es unter uns wie grauer Wasserschein,
40Und unter Kähnen wandeln müd’ die Wogen.

41Vorbei, vorüber! und ein geller Pfiff!
42Weiß fliegt der Dampf, … ein Knirschen an den Schienen!
43Die Bremse stöhnt laut unter starkem Griff …
44Langsamer nun! Es glänzt in Aller Mienen!
45Glashallen über uns, rings Menschenwirr’n, …
46Halt! Und „Berlin!“ Hinaus aus engem Wagen!
47„berlin!“ „Berlin!“ Nun hoch die junge Stirn,
48Ins wilde Leben laß dich mächtig tragen!

49Berlin! Berlin! Die Menge drängt und wallt,
50Wirst du versinken hier in dunklen Massen …
51Und über dich hinschreitend stumm und kalt,
52Wird Niemand deine schwache Hand erfassen?
53Du suchst — du suchst die Welt in dieser Flut,
54Suchst glühende Rosen, grüne Lorbeerkronen, …
55Schau dort hinaus! … Die Luft durchquillt’s wie Blut,
56Es brennt die Schlacht und Niemand wird dich schonen.

57Schau dort hinaus! Es flammt die Luft und glüht,
58Horch Geigenton zu Tanz und üpp’gem Reigen!
59Schau dort hinaus, der fahle Nebel sprüht,
60Aus dem Gerippe nackt herniedersteigen …
61Zusammen liegt hier Tod und Lebenslust,
62Und Licht und Nebel in den langen Gassen — — —
63Nun zeuch hinab, so stolz und selbstbewußt,
64Welch’ Spur willst du in diesen Fluten lassen?

(Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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