Conrad Ferdinand Meyer: Auf dem Canal grande (1882)

1Eine glückgefüllte Gondel gleitet auf dem Canal grande,
2An Giorgione lehnt die Blonde mit dem rothen Sammtgewande.
3„giorgio, deiner Laute Saiten hör' ich leise, leise klingen“ —
4„julia Vendramin, Erlauchte, was befiehlst du mir zu singen?“

5„nichts von schönen Augen, Giorgio! Solches Thema sollst du
6Singe, wie dem Meer entstiegen diese wunderbaren Gassen!
7Fessle kränzend keine Locken, die sich ringeln los und ledig!
8Giorgio, singe mir von meinem unvergleichlichen Venedig!“

9„meine süße Muse will es! Es geschieht!“ Er präludierte.
10„weiland, eh' des heil'gen Marcus Flagge dieses Meer regierte,
11Drüben dort, wo duftverschleiert Istriens schöne Berge blauen,
12Sank vor ungezählten Jahren eine Dämm'rung voller Grauen.

13Durch das Dunkel huschen Larven, angstgeschreckte Hunde winseln,
14Schreie gellen, Stimmen warnen: „Löst die Böte! Nach den
15In den Lüften haucht ein Odem, wie es in den Gräbern
16Schaurig tagen Meer und Himmel! Aquileja brennt und lodert!

17Von der Stätte, wo die stillen, ungezähmten Flammen wogen,
18Kommt ein dumpfes Menschenbrausen nach dem freien Strand
19Attila, die Gottesgeißel, jagt auf blutbesprengten Pfaden
20Krieger mit zerbrochnen Schwertern, Fraun mit Schätzen schwer

21Wie zum Hades Schatten wandern, ziehn zum Meere die
22Das die purpurroth gefärbten Wolken weit hinaus beleuchten,
23Wittwen, Waisen schreiten jammernd, schweigend stürzen wunde
24Mitten im Gewühle bäumen Wagen sich und scheue Renner.

25Kniee wanken, Füße gleiten, Kästchen brechen, draus die hellen
26Goldnen Reife rollend springen und die weißen Perlen quellen.
27Nackte Küstenkinder starren gierig auf das rings zerstreute
28Gold, und doch betastet's keines, — Etzel's ist die ganze Beute!

29Schiffer rüsten dunkle Nachen, drüber Wogen schäumend schlagen,
30Durch die weiße Brandung werden bleiche Fraun an Bord
31Mit der Rechten an die phryg'sche Mütze langt der Meerplebejer,
32Beut zum Sprung ins Boot die Linke dem behelmten Aquilejer.

33Schon entflieht ein Schiff mit weh'nden Segeln, flatternden
34Drin sich weitgetrennte Loose sonder Wahl zusammenfanden,
35Unbekannte Hände drücken sich in angstbeklommnem Traume,
36Aquileja's Ueberbleibsel schmiegen sich in engem Raume.

37Letzte Scheideblicke wendend, sehn sie noch den Himmel bluten,
38Aber tiefer stets und ferner brennen die gesunknen Gluten.
39Still verglimmt der Heimat müde Todesfackel. Auf die Ruder
40Beugt sich Unglück neben Unglück, Bruder seufzend neben Bruder.

41Eine Fürstin küsst ein Knäblein, ein dem Edelblute fremdes,
42Eine Sclavin wärmt ein fürstlich Kind im Schooß des Wollen-
43Unter ihnen Eine Tiefe, über ihnen Eine Wolke —
44Liebe thaut vom Himmel, Liebe wächst in diesem neuen Volke.

45Ueber eines Mantels Flattern, sturmverwehten greisen Haaren
46Will das Schweben einer Glorie einen Heil'gen offenbaren,
47Dieses ist der heil'ge Marcus, rüstig rudernd wie ein Andrer —
48Nach den nahenden Lagunen lenkt die Fahrt der sel'ge Wandrer.

49Neben ihm der Jugendschlanke schlägt die Wellen, daß sie schallen,
50Wirren Locken sind die Kränze schwelgerischer Lust entfallen.
51Der Bacchant wird zum Aeneas. Niederbrannte Troja's Feuer.
52Mit den rudernden Genossen sucht er edles Abenteuer.

53Mälig lichtet sich der Osten. In der ersten Helle schauen
54Kecke Männer tief ins Antlitz morgenstiller schöner Frauen —
55Lieblich Haupt, das blonde Flechten wie mit lichtem Ring
56Bald an einem tapfern Herzen wirst du deine Heimat finden!

57Scharfgezeichnet neigt sich eines Helden narb'ge Stirne denkend,
58In das göttliche Geheimniß ew'gen Werdens sich versenkend;
59Rings in Stücke sprang zerschmettert Roma's rost'ge Riesenkette,
60Neue Weltgeschicke gönnen junger Freiheit eine Stätte ....

61Wie geworfen aus dem Himmel heiter spielend von Auroren,
62Schwimmt ein lichter Kranz von Inseln in die blaue Flut ver-
63Jubelnd grüßen den beschwingten, den beseelten Ruderschlägen
64Fischer bis zum Gurt umbrandet, netzezieh'nde, schon entgegen.

65„fleh'nde kommen wir, Veneter! Drüben flammt ein weit
66Unsre Seelen sind entronnen einem ungeheuern Sterben!“
67„freuet euch! Ihr lebt und athmet! Hier ist euch Asyl gegeben!
68Friede sei mit euren Todten! Freude denen, die da leben! ...“

69Schwert und Ruder tragend wallen ernste Genien vor den Böten;
70Auch ein Schwarm von Liebesgöttern flügelt durch die jungen
71Ueber das Gestein der Inseln geht ein Hauch von Lust und
72Ahnungsvollem Meer entsteigend, prangt Venedigs erste Sonne.

73Blonde Julia, Deiner Heimath Ursprung hab' ich dir verkündet,
74Liebe hat die Stadt Venedig, Liebe hat die Welt gegründet —
75Deiner Augen strahlend blauer Himmel würde bleichen ohne
76Liebesfeuer und verstummen, wie die Laute des Giorgione.“

(Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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