Eduard Mörike: I. Vom Sieben-Nixen-Chor (1838)

1Sizt ein Mann von ernster Schöne,
2Sizt der Magier Drakone
3Auf dem Gartenhausbalkone
4Mit Prinzessin Liligi;
5Lehrt sie allda seine Lehre
6Von der Erde, von dem Himmel,
7Von dem Traum der Elemente,
8Vom Geschick im Sternenkreise.

9Laß es aber nun genug seyn,
10Mitternacht ist lang vorüber, —
11Spricht Prinzessin Liligi, —
12Und nach solchen Wunderdingen,
13Mächtigen und ungewohnten,
14Lüstet mich nach Kindermährchen,
15Lieber Mann, ich weiß nicht wie!

16„hörst du gern das Lied vom Winde,
17Das nicht End' noch Anfang hat,
18Oder gern vom Königskinde,
19Gerne von der Muschelstadt?“

20Singe du so heut wie gestern
21Von des Meeres Lustrevier,
22Von dem Haus der sieben Schwestern,
23Und vom Königssohne mir.

24„zwischen grünen Wasserwänden
25Sizt der Sieben-Nixen-Chor;
26Wasserrosen in den Händen,
27Lauschen sie zum Licht empor.

28Und wenn oftmals auf der Höhe
29Schiffe fahren, schattengleich,
30Steigt ein siebenfaches Wehe
31Aus dem stillen Wasserreich.

32Dann, beim Spiel von Zauberglocken,
33Drehn die Schwestern sich im Tanz,
34Schütteln wild die grünen Locken
35Und verlieren Gurt und Kranz.

36Und das Meer beginnt zu schwanken,
37Well' auf Welle steigt und springt,
38Alle Elemente zanken
39Um das Schiff, bis es versinkt.“

40Also sang in Zaubertönen
41Süß der Magier Drakone
42Zu der lieblichen Prinzessin;
43Und zuweilen, im Gesange,
44Neiget er der Lippen Milde
45Zu dem feuchten Rosenmunde,
46Zu den hyazintheblauen,
47Schon in Schlaf gesenkten Augen
48Der bethörten Jungfrau hin.
49Diese meint im leichten Schlummer,
50Stets noch höre sie die Lehre
51Von der Erde, von dem Himmel,
52Vom Geschick im Sternenkreise,
53Doch zulezt erwachet sie:

54Laß es aber nun genug seyn!
55Mitternacht ist lang vorüber,
56Und nach solchen Wunderdingen,
57Mächtigen und ungewohnten,
58Lüstet mich nach Kindermährchen,
59Lieber Mann, ich weiß nicht wie!

60„wohl! — Schon auf des Meeres Grunde
61Sizt das Schiff mit Mann und Maus,
62Und die Sieben in die Runde
63Rufen: Schönster, tritt heraus!

64Rufen zierlich mit Verneigen:
65Komm! es soll dich nicht gereu'n;
66Woll'n dir unsre Kammer zeigen,
67Wollen deine Mägde seyn.

68— Sieh, da tritt vom goldnen Borde
69Der bethörte Königssohn,
70Und zu der korallnen Pforte
71Rennen sie mit ihm davon.

72Doch man sah nach wenig Stunden,
73Wie der Nixenbräutigam
74Todt, mit sieben rothen Wunden,
75Hoch am Strand des Meeres schwamm.“

76Also sang in Zaubertönen
77Süß der Magier Drakone;
78Und zuweilen, im Gesange,
79Neiget er der Lippen Milde
80Zu dem feuchten Rosenmunde,
81Zu den hyazintheblauen,
82Schon in Schlaf gesenkten Augen
83Der bethörten Jungfrau hin.

84Sie erwacht zum andern Male,
85Sie verlanget immer wieder:
86Lieber Mann, ein Kindermährchen
87Singe mir zu guter Lezt'!

88Und er singt das lezte Mährchen,
89Und er küßt die lezten Küsse;
90Lied und Kuß hat ausgeklungen,
91Aber sie erwacht nicht mehr.
92Denn schon war die dritte Woche,
93Seit der Magier Drakone
94Bei dem edeln Königskinde
95Seinen falschen Dienst genommen;
96Wohlberechnet, wohlbereitet,
97Kam der lezte Tag heran.

(Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Eduard Mörike (1804-1875)

* 09/08/1804 in Ludwigsburg, † 06/04/1875 in Stuttgart

männlich, geb. Mörike

deutscher Lyriker der Schwäbischen Schule, Erzähler und Übersetzer

(Aus: Wikidata.org)

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