Joseph von Eichendorff: Nachtlied (1811)

1Vergangen ist der lichte Tag,
2Von ferne kommt der Glocken Schlag;
3So reist die Zeit die ganze Nacht,
4Nimmt manchen mit, der's nicht gedacht.

5Wo ist nun hin die bunte Lust,
6Des Freundes Trost und treue Brust,
7Des Weibes süßer Augenschein?
8Will keiner mit mir munter sein?

9Da's nun so stille auf der Welt,
10Ziehn Wolken einsam übers Feld,
11Und Feld und Baum besprechen sich –
12O Menschenkind! was schauert dich?

13Wie weit die falsche Welt auch sei,
14Bleibt mir doch Einer nur getreu,
15Der mit mir weint, der mit mir wacht,
16Wenn ich nur recht an ihn gedacht.

17Frisch auf denn, liebe Nachtigall,
18Du Wasserfall mit hellem Schall!
19Bis daß der lichte Morgen scheint!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Gedichtanalyse


Joseph Freiherr von Eichendorff beschäftigt sich in seinem Gedicht „Nachtlied“ (1815) mit dem Nachmotiv sowie dem Wegmotiv während der Epoche der Romantik. Er stellt die Vergänglichkeit des als positiv empfundenen Tages und die nächtliche Einsamkeit, die durch das Jenseitige sowie die Hinwendung zur idealisierten Natur gelindert wird, dar. In der ersten Strophe stellt das lyrische Ich die spürbare Vergänglichkeit des Tags sowie der Nacht fest. In der zweiten Strophe wird die Frage nach der fehlenden Lust und Munterkeit während der Nacht gestellt. In der dritten Strophe wird die Natur während der stillen und einsamen Nacht beobachtet. In der vierten Strophe legt das lyrische Ich dar, dass es jemanden hat, der ihm in vielen Lebenssituationen beisteht. In der letzten Strophe wendet sich das lyrische Ich an die Nachtigall und lobt Gott. Das gleichförmige Gedicht umfasst fünf Strophen à vier Verse. Es ist in einem unreinen Paarreim (vgl. V. 10) verfasst, eine Ausnahme bildet dabei ein Waise (vgl. V. 13). Der Paarreim weist auf die Korrelation von Tag und Nacht bzw. den Tag-Nacht-Rhythmus hin (vgl. V. 1, V. 3). Metrisch ist das Gedicht mit einem durchgängig vierhebigen Jambus gestaltet, welches durch seine dynamische, bewegende und vorwärtsdrängende Wirkung die Vergänglichkeit rhythmisch unterstützt. Es liegen ausschließlich männliche Kadenzen vor. Die einheitliche Gestaltung des Metrums, des Strophenbaus und der Kadenzen verdeutlichen die positive Wirkung der nächtlichen Natur auf das lyrische Ich (vgl. V. 17-20). Der Waise (vgl. V. 13) und das unreine Reimschema (vgl. V. 10) machen auf die Einsamkeit, die der Sprecher verspürt, aufmerksam (vgl. V. 5-8, V. 12). Grundsätzlich harmoniert die formale Gestaltung, da der nächtliche Zauber der Natur in dem Gedicht thematisiert wird (vgl. V. 17-20). Es liegt ein explizites lyrisches Ich vor, welches in der zweiten Strophe in Erscheinung tritt (vgl. V. 8). Zunächst verspürt es Melancholie (vgl. V. 5-8), die bei zunehmender Wahrnehmung der Natur und Erkennung von Gott als Bezugsperson in eine Faszinati-on umschwenkt (vgl. 13-20). Das explizite lyrische Du wechselt sich mehrmals: In der dritten Strophe wird das lyrische Ich du den „Feld und Baum“ (V. 11) bestimmt, die dem Menschen eine Frage stellen (vgl. V. 11 f.). In der letzten Strophe wendet sich der Sprecher hingegen an die Nachtigall (vgl. V. 18). Der Sprecher spricht als wir für die Menschheit durch das inkludierende Personalpronomen „wir“ (V. 19); dadurch nimmt der Sprecher an, dass andere Menschen seine Sichtweise unterstützen und kreiert die Illusion einer Einheit („vereint“, V 19). Zu Beginn des Gedichts wird durch die Inversion „Vergangen ist der lichte Tag“ (V. 1) die irdische Vergänglichkeit akzentuiert, die auch die Personifikation „So reist die Zeit die ganze Nacht“ (V. 3) untermauert. Das Attribut „ganze“ (V. 3) und die Feststellung „Nimmt manchen mit, der’s nicht gedacht“ (V. 4) zeigen die Allgemeingültigkeit der Vergänglichkeit, der sich niemand entziehen kann. Der „Glocken Schlag“ (V. 2) kann als Symbol für die Nacht verstanden werden und zeigt die Distanz des Sprechers von dem Getümmel der Stadt auf; es sucht Geborgenheit in der Natur. Für die Geborgenheit in der Natur nimmt das lyrische Ich die nächtliche Einsamkeit in Kauf: Das Adverb „nun“ (V. 5) verdeutlicht den Kontrast zwischen dem positiv konnotierten „lichte[n] Tag“ (V. 1) und der negativ konnotierten „Nacht“ (V. 2), die eine melancholische Stimmung hervorruft. Die Nacht ruft die Frage hervor, wohin die als „bunt[]“ (V. 5) attribuierte „Lust“ (V. 5) sei, die der Sprecher im Tag gefunden hat (vgl. V. 1-8). In einer Anapher (V. 6/7) zur Bestimmung der Zugehörigkeit der Lust bezieht sich das lyrische Ich auf die positiv konnotierten „Freunde[]“ (V. 6) und „Weibe[r]“ (V. 7). Die Melancholie und Einsamkeit spiegeln sich in der Alliteration „mit mir munter“ (V. 8), verpackt in einer Frage, wider. Alleingelassen von Menschen, zu dem der Sprecher Nähe empfindet, betrachtet er nun die dynamische Natur: Der Vergleichspartikel „so“ (V. 9) intensiviert die Stille während der Nacht. Der Transfer der Einsamkeit auf die Wolken verdeutlicht die grundsätzliche Einsamkeit während der Nacht und zeigt eine Schnittstelle zwischen dem Sprecher sowie der Natur (vgl. V. 9 f.). Die Personifikation von „Feld und Baum“ (V. 11), die sich besprechen, zeigt die durch den Sprecher initiierte Traumwelt zur Findung von Geborgenheit innerhalb der romantisierten Natur. Die personifizierten Naturelemente kümmern und sorgen sich um den Sprecher, das zeigt sich durch die Interjektion „O“ (V. 12), das verniedlichende Kompositum „Menschenkind“ (V. 12) und die Frage „was schauert dich?“. Zwischen den vorherigen Strophen und den letzten beiden Strophen gibt es eine Zäsur durch den Stimmungswechsel des lyrischen Ichs: Die Alliteration „Wie weit“ (V. 13) und als „falsch[]“ (V. 13) attribuierte Welt verdeutlicht, dass der Sprecher die Realität, deren Entwicklung sich durch die Gesellschaft von dem Naturzustand der Welt entfernt, durch Distanzierung versucht abzulehnen (vgl. V. 13). Das Bedürfnis nach Beistand wird nicht durch Menschen erfüllt (vgl. V. 5-8), stattdessen wird durch das Pronomen „Einer“ (V. 14) und das Adverb „nur“ (V. 14) hervorgehoben, dass Gott als einziger Ansprechpartner zur Verfügung steht. Diese Funktion ist jedoch an einen konformen Glauben geknüpft, das zeigt der folgende Konditionalsatz: „Wenn ich nur recht an ihn gedacht.“ (V. 16) Der Parallelismus „Der mit mir weint, der mit mir wacht“ (V. 15) untermauert die beistehende Funktion Gottes, die scheinbar vielseitig ist (vgl. V. 13-16). In der letzten Strophe gewinnt der Sprecher durch die idealisierte Natur an neuer Energie und an Stimmung („frisch“, V. 17): Das lyrische Ich verspürt eine innige Beziehung zur Nachtigall, die als „lieb[]“ (V. 17) attribuiert wird. Die Wahrnehmung der Nachtigall wird durch die Metapher „Du Wasserfall mit hellem Schall!“ (V. 17) bildlich und akustisch verdeutlicht. Die Inversion „Gott loben wollen wir vereint“ (V. 19) hebt den intensiven Bezug des Sprechers zu Gott hervor, die Präposition „bis“ (V. 20) gibt dabei das Ende des Lobs an, nämlich den „lichte[n] Morgen“ (V. 20). Die Hinwendung zu Gott macht klar, dass der Mensch nur durch Gott und seine Naturschöpfung die einsame Nacht übersteht (vgl. V. 19 f.). Das zeigen auch die Exclamationes (V. 18/20). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Natur und Gott das lyrische Ich von seiner Einsamkeit, hervorgerufen durch die allgemeingültige Vergänglichkeit, ablenken und eine magische Wirkung auf es haben. Es finden sich verschiedene epochentypische Merkmale der Romantik wieder: Die Abgrenzung des lyrischen Ichs von dem Getümmel verdeutlicht dessen Wunsch nach Entgrenzung und eskapistisches Verhalten (vgl. V. 1-4, V. 13). Die Personifikation von „Feld und Baum“ (V. 10) zeigt auf, dass die Natur als Traumwelt angesehen wird und sich von der Wirklich zur Natur abgewandt wird. Durch die Hinwendung zu Gott zeigt sich die Faszination für das Mystische, denn Gott wird als einziger Loyaler angesehen (vgl. V. 13-16). Zudem wird die Nachtigall als typisches romantisches Attribut aufgegriffen (vgl. V. 17). Formal zeigt sich die progressive Universalpoesie, da das Gedicht durch den Waisen sowie den unreinen Reim keinem konkreten Schema unterliegt; dadurch kann Eichendorff seine fantasievolle Schaffenskraft uneinge-schränkt wirken lassen.


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Veröffentlicht am
10/3/2023