Joseph von Eichendorff: Sehnsucht (1837)

1Es schienen so golden die Sterne,
2Am Fenster ich einsam stand
3Und hörte aus weiter Ferne
4Ein Posthorn im stillen Land.
5Das Herz mir im Leib entbrennte,
6Da hab' ich mir heimlich gedacht:
7Ach wer da mitreisen könnte
8In der prächtigen Sommernacht!

9Zwei junge Gesellen gingen
10Vorüber am Bergeshang,
11Ich hörte im Wandern sie singen
12Die stille Gegend entlang:
13Von schwindelnden Felsenschlüften,
14Wo die Wälder rauschen so sacht,
15Von Quellen, die von den Klüften
16Sich stürzen in die Waldesnacht.

17Sie sangen von Marmorbildern,
18Von Gärten, die über'm Gestein
19In dämmernden Lauben verwildern,
20Palästen im Mondenschein,
21Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
22Wann der Lauten Klang erwacht
23Und die Brunnen verschlafen rauschen
24In der prächtigen Sommernacht. —

(Eichendorff, Joseph von: Gedichte. Berlin, 1837.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Gedichtanalyse


Joseph von Eichendorff stellt in seinem Gedicht „Sehnsucht“ (1830/31) , zugehörig zur Epoche der Romantik, die aus der einsamen sowie monotonen Lebenssituation hervorgerufene Sehnsucht nach der Ferne und Natur dar. Das Gedicht wird unter besonderer Berücksichtigung des Schlüsselbegriffs „Sehnsucht“ im Hinblick auf das Motiv des Unterwegsseins vergleichend analysiert.

In der ersten Strophe steht das lyrische Ich nachts am Fenster und hört Geräusche, die es zum Reisen motiviert. Die zweite Strophe thematisiert die Beobachtung des Sprechers von zwei Wanderern. In der dritten Strophe wird die Naturwahrnehmung der Wanderer näher thematisiert.

Das gleichförmige Gedicht umfasst drei Strophen à 8 Verse. Es ist in einem durchgängigen, unreinen Kreuzreim verfasst (vgl. V. 5 und 7). Die Endreime ändern sich in der Mitte jeder Strophe. Das Metrum ist eine Kombination aus Trochäen und Daktylen mit durchgängig drei Hebungen pro Vers. Die weiblichen und männlichen Kadenzen wechseln sich ab.

Durch den Wechsel der Reime, Kadenzen und Metren weist das Gedicht eine harmonische Form auf. Dieser Wechsel spiegelt sich inhaltlich in der Gegenüberstellung von der begrenzten Lebenssituation des lyrischen Ichs und dem unbegrenzten Naturgenuss der Reisenden wider. Durch die gleichmäßigen metrischen Hebungen und den gleichmäßigen Kreuzraum ist das Gedicht in sich stimmig. Diese Stimmigkeit findet sich auch in der beschriebenen in sich stimmigen und positiv konnotierten Natur wieder.

Das Gedicht ist im Präteritum verfasst, somit erzählt der Sprecher bereits gewonnene Wahrnehmungen. Es liegt ein explizites lyrisches Ich vor („ich“, V. 2), welches in einer emotionalen Sprechweise sein Fernweh ausdrückt. Ein lyrisches Du liegt nicht vor, da das Gedicht zur Verarbeitung der Situation des Sprechers dient. Der Sprecher ist nicht selbst unterwegs, sondern beobachtet Wanderer, die unterwegs in der Natur sind.

Das lyrische Ich tritt direkt in Erscheinung und beschreibt die Sprecherinstanz selbst in der ersten Hälfte der ersten Strophe, denn es ist nachts („die Sterne“, V. 1), der Sprecher beschreibt sich als „einsam“ (V. 2) und hört ein fernes Posthorn (vgl. V. 1-4). Der Vergleichspartikel „so“ (V. 1) dient zur Romantisierung der Sterne durch das Adverb „golden“ (V. 1). Die Intensivität des Scheins der Sterne wird durch die Alliteration „so golden“ (V. 1) deutlich. Die räumliche Distanz zwischen dem Sprecher und dem fernen Posthorn wird durch ein Enjambement ausgedrückt (vgl. V. 2/3). Das „stille[] Land“ (V. 3) kann symbolisch für die Einsamkeit innerhalb des häuslichen Umfelds sowie der monotonen Erlebnisse des Sprechers verstanden werden.

Anschließend folgt eine Zäsur, die sich auch in der Interpunktion durch das Satzende zeigt (vgl. V. 4), da die räumliche Beschreibung eine heftige Gemütsbewegung verursacht: „Das Herz mir im Leib entbrennte“ (V. 5) Die Metapher unterstreicht die wilde Sehnsucht des lyrischen Ichs, welches unbedingt reisen möchte. Die Leidenschaft zum Reisen zeigt sich auch durch die Interjektion „Ach“ (V. 7). Auf formaler Ebene zeigt sich die Leidenschaft auch in den unreinen Reimen, die in den Versen vorliegen, in welchen die Leidenschaft verdeutlicht wird (vgl. V. 5 und 7). Das Modelverb „könnte“ (V. 7) steht im Konjunktiv II, wodurch klar wird, dass sich das lyrische Ich extrem nach der Ferne sehnt, scheinbar aber gar nicht die Möglichkeit hat, selbst mitzureisen (vgl. V. 7 f.). Diese fehlende Möglichkeit bildet sich auch in einem Enjambement ab (vgl. V. 7/8). Die Exclamatio „In der prächtigen Sommernacht!“ (V. 8) inklusive der positiv beschriebenen Sommernacht rundet die in der Strophe positive Wahrnehmung der Nacht, die die Sehnsucht nach der Natur und Ferne auslöst, ab.

In der zweiten Strophe beschreibt der Sprecher zunächst „[z]wei junge Gesellen“, die wandern und dabei singen, was der Sprecher akustisch wahrnimmt und zum Gegenstand des weiteren Gedichts macht (vgl. V. 9-11). Die Enjambements verdeutlichen die Relevanz des Gesangs für den Sprecher sowie die Unbegrenztheit der Wanderer in der Natur, gegenteilig zu dem beschränkten Leben des lyrischen Ichs (vgl. V. 9/10, V. 11/10). Die Alliteration „sie singen“ (V. 11) hebt den Gesang der Wanderer hervor, der folgend konkretisiert wird, was der Doppelpunkt zeigt (vgl. V. 12): Der Gesang idealisiert die Natur, das verdeutlicht das positive konnotierte Wortfeld der Natur, wie z. B. „schwindelnde[] Felsenschlüfte“ (V. 13), „Wälder rauschen so sacht“ (V. 14) und „Quellen, die von den Klüften/Sich stürzen“ (V. 15). Die Personifizierung der Natur akzentuiert den hohen Stellenwert der Natur für die Wanderer (vgl. V. 13-16). Die Alliteration „[s]ich stürzen“ (V. 15) zeigt die Dynamik der Natur auf, die im Kontrast zu der Statik der Erlebnisse des Sprechers steht.

In der darauffolgenden dritten Strophe wird der Inhalt des Gesangs, der nicht nur die reine Natur wie in der zweiten Strophe beinhaltet, sondern auch Bestandteile der durch den Menschen kultivierten Natur, näher ausgeführt: „Marmorbilder“ (V. 17), „Gärten“ (V. 18) und „Paläste“ Diese kultivierte Natur wie „Gärten, die überm Gestein/In dämmernden Lauben verwildern“ (V. 18 f.) und „Palästen im Mondenschein“ (V. 20) sind eins mit der reinen Natur, das spiegelt sich auch in der syntaktischen Verknüpfung der menschengemachten und natürlichen Elemente wider. Die positiv konnotierten Naturphänomene „dämmernden Lauben“ (V. 19) und „Mondenschein“ (V. 29) idealisieren die vorliegende Natur.
Die „Mädchen am Fenster“ (V. 21), die die Natur beobachten, sind in einer ähnlichen Position wie der Sprecher am Fenster, zumal diese ebenfalls die Natur akustisch wahrnehmen (vgl. V. 21 ff.). Die Anapher „Wo die Mädchen am Fenster lauschen,/Wann der Lauten Klang erwacht“ (V. 21/22) verdeutlicht die Ähnlichkeit beider Positionen. Durch die Personifikation der Brunnen, die „verschlafen rauschen“ (V. 23), wird die traumartige Atmosphäre gestützt. Abschließend wird der letzte Vers aus der ersten Strophe „In der prächtigen Sommernacht“ (V. 8/24) wiederholt, was die Finalstruktur des Gedichts deutlich macht. Aus dem Ausrufsatz (vgl. V. 8) wird nun ein Aussagesatz (vgl. V. 24), wodurch unterstrichen wird, dass sich das lyrische Ich mit seiner unermüdlichen Sehnsucht und seinem unstillbaren Fernweh abgefunden hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Schlüsselbegriff der Sehnsucht in dem vorliegenden Gedicht als ein unstillbares Fernweh nach dem Unterwegssein außerhalb des heimischen Umfelds verstanden werden kann. Die Sehnsucht des Sprechers wird durch die Romantisierung und Idealisierung der Natur erweckt.

Durch Eichendorff als klassischer Vertreter der Romantik lassen sich zahlreiche epochentypische Merkmale in dem Gedicht finden: Dass die Sehnsucht schöner als die Erfüllung ist, bestätigt sich, da der Sprecher seinen Wunsch nach dem Unterwegssein letztendlich nicht nachkommen kann (vgl. V. 7). Der durch die Sehnsucht hervorgerufene Schmerz findet sich ebenfalls wieder (vgl. V. 5). Darüber hinaus wird durch den Gesang der Wanderer der Aspekt der Natur und Wanderschaft miteingebracht (vgl. V. 13 ff.). Durch die traumartige Darstellung der Natur wird das Sehnen nach einer idealisierten Welt verdeutlicht (vgl. V. 13 ff.). Außerdem wird die ursprünglichste Form des menschlichen Unterwegsseins, das Wandern, in dem Gedicht thematisiert. Typische romantisierte Dinge wie der Mond („Mondenschein“, V. 20) und die Nacht („Sommernacht“, V. 24).

Möglicher Gedichtvergleich mit dem gleichnamigen Gedicht von Ulla Hahn:

Auch Ulla Hahn, die 1945 geboren ist, beschäftigt sich in dem gleichnamigen Gedicht „Sehnsucht“ mit dem Begriff der Sehnsucht rund 150 Jahre nach Eichendorff.

Ulla Hahn stellt in ihrem Gedicht die unverarbeitete Trennung von einem geliebten Menschen und gleichzeitige Sehnsucht nach diesem dar. In der ersten Strophe geht es um die unkontrollierbare Sehnsucht nach der Trennung von einem geliebten Menschen. In der zweiten Strophe werden die Angstgefühle und der Schmerz thematisiert, die durch die ständige und nicht zu ignorierende Sehnsucht hervorgerufen werden. Die dritte Strophe behandelt die vorgestellte Zukunft mit der geliebten Person und das Ende der Beziehung.

Das lyrische Ich verspürt Liebeskummer und wendet sich an die von ihm getrennte geliebten Person, die das lyrische Du darstellt.

Auffällig ist die nicht regelkonforme Interpunktion, die lediglich zur Akzentuierung regelkonform vorgenommen wird. Außerdem liegen durchgängig Enjambements vor. Diese beiden sprachlichen Aspekte spiegeln die diffuse Gefühlslage des Sprechers wider.

Die Sehnsucht wird in den Vordergrund des Gedichts gerückt, so z. B. durch die wiederholte Nutzung des Personalpronomens „[s]ie“ (V. 1) und die Anapher „Sie weiß […]/Sie versucht“ (V. 1/3).

Die Hervorhebung der Sehnsucht erfolgt besonders durch die Vogelmetaphorik: Die Sehnsucht wird durch einen Vogel verkörpert („Vogel Sehnsucht“, V. 12). Durch die Verkörperung als Vogel wird die Sehnsucht dynamisch und eigenwillig dargestellt, sodass der Sprecher sogar gegen sie ankämpfen muss (vgl. V. 4). Der Vogel steht auch in Beziehung zu dem geliebten Menschen und wird in gewisser Weise allwissend als Akteur zwischen Diesseits und Jenseits dargestellt (vgl. V. 5-10).

Das Motiv des Unterwegsseins findet sich in allen Akteuren des Gedichts wieder, nämlich dem lyrischen Ich, Du und dem Vogel. Der Vogel ist unterwegs in der Natur und „weiß nicht wohin“ (V. 2) und ist daher in „unvertrautem Geäst“ (V. 3) unterwegs. Da der Vogel allerdings für die Sehnsucht steht, kann das Unterwegssein hier als spirituelles Unterwegssein veranlasst durch die diffuse Gefühlslage verstanden werden. Das lyrische Ich hat erwartet, dass das lyrische Du sein Ziel erreicht, doch es „kam[] nicht“ (V. 11). Daraufhin ist der Sprecher „fortgegangen“ (V. 12) ohne ein konkretes Ziel zu nennen, scheinbar geht es primär darum, dem Vogel und gewohnten Umfeld zu entkommen.

Im Vergleich zu Eichendorffs Gedicht „Sehnsucht“ (1830/31) ist bei Hahn nicht die Sehnsucht zur Natur, sondern zu einem Menschen gemeint. Bei Eichendorff ist es die romantisierte Natur, bei Hahn der geliebte Mensch und die romantische Beziehung zu diesem. Bei Hahn finden sich trotz der unterschiedlichen Epoche romantische Motive wieder, so z. B. Sehnsucht, Liebe und Schmerz.

Darüber hinaus geht es bei Eichendorff um eine Sehnsucht verbunden mit dem Fernweh und der Leidenschaft zu reisen, während es bei Hahn um eine spirituelle Sehnsucht nach einer geliebten Person geht. Somit ist bei Eichendorff tatsächliches Unterwegssein in der Natur, wohingegen bei Hahn ein Unterwegssein innerhalb der Gefühlswelt, Liebe und des Lebensverlaufs gemeint ist. Das Ziel des Sprechers bei Eichendorff ist es, sich aus dem heimischen Umfeld zu entgrenzen; bei Hahn das Ziel, die Trennung zu verarbeiten und die Gefühle zu sortieren. In beiden Gedichten ist es u. a. das Ziel, die eigene Sehnsucht zu stillen.

Resümierend lässt sich sagen, dass hinsichtlich des Sehnsuchtsbegriffs eine große Differenz zwischen der Romantik und der Moderne liegen: eine Sehnsucht zur Natur und zu einer geliebten Person. Zwar gibt es Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gedichten, allerdings überwiegen die Unterschiede deutlich.


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Veröffentlicht am
7/4/2023